Düsterbruch - Almstädt, E: Düsterbruch
Stimme. Er drehte sich zu ihr um, und sie zuckte zusammen, als sein Blick sie traf. Enno sah wütend und vollkommen verzweifelt aus. Carola erkannte den Mann, mit dem sie seit dreizehn Jahren verheiratet war, kaum wieder.
»Sie will nicht darüber reden, Enno. Auch nicht mit Doktor Godewind. Er hat ihr was gegeben, damit sie eine Weile zur Ruhe kommt. Körperlich scheint sie aber unverletzt zu sein.« Sie wählte ihre Worte mit Bedacht. Keinesfalls wollte sie Enno ihre Gedanken verraten. Sie kreisten um die unheimliche Parallele zwischen Tizias Verhalten – Verzweiflung und dann verstocktes Schweigen – und dem ihrer Mutter an dem Tag, bevor sie sich das Leben genommen hatte. Carola hatte sofort daran denken müssen. Aber vernünftig betrachtet hatte das eine nichts mit dem anderen zu tun. Tizia und ihre Mutter waren ja nicht einmal blutsverwandt. Das Mädchen hatte ohne Zweifel in der letzten Nacht etwas Schlimmes erlebt. Sie litt unter einem Schock und einem schlechten Gewissen, weshalb auch immer. Aber Tizia hatte schon immer heftige Gefühlsschwankungen gehabt. Sie war jung und gesund. Sie hatte alle Chancen, sich wieder zu erholen.
»Du hast sie doch gestern Abend nach Kiel gefahren«, sagte Enno vorwurfsvoll.
»Sie wollte mit einer Freundin ins Kino gehen und anschließend bei ihr übernachten.« Das war bestimmt nur die offizielle Eltern-Version gewesen. Carola hatte Tizia in die Stadt gefahren und an der Hörn vor dem Kino aus dem Auto gelassen, um nicht erst einen Parkplatz suchen zu müssen.
Heute Morgen, als Carola in ihr Zimmer gekommen war, hatte Tizia noch im Bett gelegen. Vollständig bekleidet, schmutzig, mit wirren Haaren und einer Schürfwunde im Gesicht.
»Ich will wissen, was passiert ist!«, beharrte Enno verzweifelt.
Doch Tizia wollte mit niemandem reden. Als sie sie vorsichtig danach gefragt hatten, was denn passiert sei, hatte sie angefangen zu heulen. So außer sich hatte Carola sie zuletzt im Alter von sieben Jahren gesehen, als ihr erstes Pony hatte eingeschläfert werden müssen.
»Ich werde jetzt Franzi anrufen. Vielleicht weiß die etwas«, sagte Carola. Sie war sich sicher, dass Tizias Freundin nichts würde beisteuern können als die Bestätigung ihrer Vermutung, dass Tizia gar nicht mit ihr verabredet gewesen war. Aber das musste Enno nicht sofort wissen. Schlechte Neuigkeiten in verdaulichen Portionen, das schien Carola noch die beste Vorgehensweise in dieser Situation zu sein. Es kam ja meistens schlimmer …
»Wenn ihr irgendein Kerl etwas angetan hat …«, knurrte Enno und stapfte aus der Küche.
Carola sah ihrem Mann zweifelnd nach. Sie hoffte, dass ihn sein nächster Weg nicht in seine Tierarzt-Praxis und zu dem Schrank führen würde, in dem er die Pistole aufbewahrte, mit der er manchmal Pferden den Gnadenschuss gab. Verdammtes Chaos!
»Du hast es dir so kurz nach deinem Urlaub ja nicht anders ausgesucht.« Broders’ Stimme enthielt eine Spur Schadenfreude. Sie standen unter dem Dachvorstand von Mona Falkes Kate in Düsterbruch. Der Regen rann das alte Reetdach hinunter und tropfte in Ermangelung einer Regenrinne direkt in Pias Jackenkragen. Sie hätte sich in der Tat nicht träumen lassen, dass ihr Job sie so bald nach ihrem erneuten Arbeitsbeginn wieder in dieses Dorf führen würde.
»Das war kein Urlaub.« Pia klopfte. »Ich fühle mich jedenfalls nicht erholt.«
»Du bist unsere Königin der Augenringe«, sagte Broders mit dem ihm eigenen Charme. »Und das, obwohl ich es war, der heute mitten in der Nacht von Gabler aus dem Bett geklingelt worden ist.«
»Ich wäre lieber dabei gewesen«, entgegnete Pia.
»Und ich würde auch gern mal so lange freimachen wie du. Ich bin echt urlaubsreif. Und besonders das Überbringen schlechter Nachrichten hängt mir zum Hals raus.«
»Hat sich zu den Ermittlungen, die wir damals zusammen in Düsterbruch durchgeführt haben, eigentlich noch mal was ergeben?«, fragte Pia. Sie hatte in den ereignisreichen Monaten mit Felix nie mehr daran gedacht.
»Nein. Der Fall war eindeutig ein Suizid. Seit der Bericht aus dem Labor kam, der bestätigt hat, dass das Blut auf Hedwig Seesens Kleidung wirklich nur Hühnerblut war, habe ich die Akte nicht mehr angefasst.«
Pia nickte. Sie fühlte sich beobachtet, obwohl kein Mensch weit und breit zu sehen war. »Wenn wir noch lange hier herumstehen, ruft einer der Nachbarn die Polizei.« Sie klopfte nochmals energisch gegen die Türfüllung.
»Frau Falke arbeitet bestimmt um diese
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