Düsterbruch - Almstädt, E: Düsterbruch
Uhrzeit im Büro.« Carola von Alsen ging ihnen voraus in die Küche und bot ihnen einen Platz am Küchentisch und eine Tasse Tee an. Von oben waren knarrende Dielenbretter und ein Poltern zu hören.
»Das hört sich nicht so an, als hätte Ihre Schwiegermutter sich hingelegt«, stellte Broders fest.
»Das ist Tizia. Ihr Zimmer liegt direkt über der Küche.« Carola von Alsen wischte mit einer fahrigen Handbewegung ein paar Krümel vom Tisch. »In den letzten Tagen ging es Tizia nicht besonders. Ich hoffe, sie wird morgen wieder zur Schule gehen.«
»Was fehlt ihr denn?« Eine indiskrete Frage, aber das war Pia bei dem unbefriedigenden Stand der Ermittlungen inzwischen fast egal.
»Sie spricht nicht mit mir.« Carola von Alsen verdrehte die Augen. »Ihr neuester Tick ist, dass sie ihre Mutter suchen will! Die Frau hat sie verlassen, als Tizia zwei Jahre alt war. Und selbst wenn ein Wiedersehen mit Lindsay für Tizia eine gute Idee wäre – eine Reise in die USA ist bei uns finanziell zurzeit einfach nicht drin.«
Pia nickte. Sie zog zwei Fotos des Perlenrings aus der Tasche und legte sie vor Carola von Alsen auf den Tisch. »Haben Sie den schon mal gesehen?«
»Den Ring? Nein. Er sieht altmodisch aus.«
»Es ist ein Platinring mit einer Südseeperle.«
»Könnte er zu dem verschwundenen Familienschmuck der von Alsens gehören?«, fragte Broders sanft.
Sie lachte auf. »Der Familienschmuck ist wohl mehr eine Legende. Sie haben bestimmt davon gehört, dass er in der Nacht gestohlen wurde, als Ennos Schwester Justina verschwunden ist. Aber ich vermute, dass das Zeug schon viel früher in irgendeinem Pfandhaus gelandet war.«
»Ach ja?« Broders beugte sich ein Stück vor.
»Die von Alsens waren damals doch fast pleite. Nicht, dass sie seitdem mal auf einen grünen Zweig gekommen wären. Das Land war zu einem Schleuderpreis verscherbelt worden, und auch das Haus stand kurz vor dem Verkauf. Glauben Sie, dass da noch wertvoller Schmuck im Schließfach lag? Höchstens ein paar weniger wertvolle Erinnerungsstücke. Dieser Silvesterball, der hier stattfinden sollte, das war doch nur ein letztes Aufbäumen vor dem Unvermeidlichen.«
»Aber das Haus ist immer noch im Besitz der von Alsens«, stellte Pia fest.
»Wir stopfen nur mit jeder Einnahme irgendwelche Löcher.«
»Erinnern Sie sich an die Nacht, als Veronikas Tochter verschwunden ist?«
»Na ja. Ich war acht, als das passiert ist. Da kann man schwer sagen, was Erinnerung ist und was ich später aus Erzählungen erfahren habe.«
»Wir nehmen alles«, sagte Pia.
»Ich erinnere mich an den Schnee. Es war der Winter der Schneekatastrophe. Eine echte Katastrophe. Es hat sogar Tote gegeben. Heute wird ja jedes weiße Flöckchen sofort zu einer Katastrophe hochgejubelt. Die Schneeverwehungen waren so gewaltig, dass wir nicht mehr aus dem Küchenfenster schauen konnten. Eine weiße Wand. Es schneite und wehte und schneite und wehte. Später fiel dann auch der Strom aus. Über Batterie konnte man noch Radio hören, und sie haben gesagt, wie man sich verhalten soll. Nicht mehr mit dem Auto fahren, weil die meisten Straßen unpassierbar waren, und so weiter. Wir hatten Glück: Die Speisekammer war voll, und genug Viehfutter hatten wir auch. Ein altes Dieselaggregat hat im Stall für Strom gesorgt. Andernorts konnten die Kühe nicht mehr gemolken werden und haben vor Schmerzen geschrien, und bei unseren Nachbarn sind die Schweine im Stall vor Kälte kollabiert. Mein Vater hat sich Sorgen gemacht, weil der Milchlaster nicht mehr durchkam, um die Milch abzuholen. Er hat versucht, mit seinem Trecker die Straße bis zur Bundesstraße zu räumen, aber da ging auch nichts mehr. Im Gegenteil, die Leute waren zum Teil in ihren Fahrzeugen eingeschneit und wurden vom THW und der Bundeswehr befreit. Einige wurden erst viel später gefunden … Mein Onkel Bert zum Beispiel … Er ist ganz in der Nähe von Düsterbruch von der Straße abkommen und in einen Graben gerutscht. Er ist in seinem Auto gestorben. Sie haben ihn erst im nächsten Frühjahr gefunden. Er war bestimmt auf dem Weg zu uns. Eigentlich hatte er Hausverbot, aber er wusste ja, dass es bei uns einen Kachelofen gab, Brennholz und genug zu essen. Meine Eltern haben nie mit mir über Onkel Berts Tod gesprochen. Das Thema war tabu. Mein Vater musste den verwesten Leichnam identifizieren.«
»Erzählen Sie uns von Justina«, sagte Broders.
»Ich erinnere mich daran, dass über den Silvesterball bei den von Alsens
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