Düsterbruch - Almstädt, E: Düsterbruch
eine Arbeitshose?«
»Ich hab mir natürlich was übergezogen, bevor ich an die Tür gegangen bin. Meinen Sie, ich trete der Polizei im Schlafanzug gegenüber?«
Er wirkte ausgesprochen wach. Auch in seinem Haar hing feiner, grauer Staub. »Wir gehen nicht, bevor wir nicht mit Oxana Markowa gesprochen haben«, sagte Pia.
»Oxana weiß nichts!«
Pia und Broders tauschten einen Blick.
»Lassen Sie uns herein«, verlangte sie. Sie hatten keinerlei rechtliche Befugnis, ihre Forderung durchzusetzen, aber manchmal wirkte eine deutliche Aufforderung Wunder.
»Das ist doch Schikane!«, murrte Seesen, doch er ging einen Schritt zur Seite.
Das Erste, was Pia beim Eintreten auffiel, war der schwache Geruch nach Erde und nassem Stein.
Broders und Pia folgten Jörg Seesen in die Küche. Er schaltete die Neonröhren unter den Hängeschränken an. Dann forderte er sie auf zu warten und ging nach oben, um Oxana zu wecken.
Pia lehnte müde am Türrahmen. Der Arbeitsbereich leuchtete hell wie die Bahnhofsmission, die Sitzecke lag in tiefem Schatten. Über der Tür tickte laut eine Uhr. Sie meinte, das letzte Mittagessen noch zu riechen. Lammfleisch und Kohl? Aber auch säuerliche Milch und alte Steine.
»Ich hoffe, dass es wirklich nötig war, hier so einzufallen«, sagte Broders unbehaglich. Über ihnen knarrten Dielenbretter unter Jörg Seesens Schritten. Pia hatte kurz den Eindruck eines Déjà-vus.
»Wir müssen auf jeden Fall mit beiden sprechen. Tizia hat Oxana vielleicht anvertraut, was sie vorhatte.«
»Glaubst du?«, fragte er. Sie hörten, wie Seesen wieder herunterkam.
»Meine Freundin ist krank. Sie schläft, und ich will sie in diesem Zustand nicht hochscheuchen«, sagte er. »Kommen Sie besser später noch mal wieder. Oder glauben Sie, wir laufen Ihnen in der Zwischenzeit davon?«
»Eine Minderjährige ist als vermisst gemeldet worden. Wir nehmen das ernst. Jede Minute kann wichtig sein.«
»Ich will ja helfen!« Jörg Seesen klang verzweifelt.
»Setzen Sie sich bitte.« Broders zog einen Stuhl vom Tisch weg. »Schildern Sie noch mal der Reihe nach, was gestern passiert ist, als Ihre Nichte zu Ihnen kam.« Er tauschte einen Blick mit Pia, die in Richtung Tür ging. Sie waren sich einig, was zu tun war.
Den Weg ins Obergeschoss kannte sie ja. Pia schaltete das Licht im Flur an und stieg die Treppe hoch. Auf dem oberen Treppenabsatz sah sie die Tür, die in das Zimmer führte, in dem Hedwig Seesen vor über einem halben Jahr gestorben war. Es gab noch drei weitere Türen. Die erste führte in ein hellblau gekacheltes Badezimmer. Als sie die zweite Tür öffnete, wehte Pia ein Schwall kalter Luft vom nicht isolierten Dachboden entgegen. Die dritte Tür musste die zu Jörgs und Oxanas Schlafzimmer sein. Sie klopfte kurz mit den Knöcheln gegen die Holzfüllung. »Frau Markowa? Sind Sie wach?«
Nichts.
Pia drückte die Klinke herunter.
Drinnen war es so dunkel, dass sie nicht einmal Umrisse erkennen konnte. Sie lauschte angespannt. Alles war ruhig. Sie öffnete die Tür noch weiter und tastete sich in dem Lichtschein, der aus dem Flur hereinfiel, bis zu einem großen Doppelbett vor. Sie knipste die Nachttischleuchte an.
Da lag Oxana, ihr Haar schimmerte dunkel, ihre Haut sah blass aus und glänzte leicht. Sie hatte bläuliche Schatten unter den Halbmonden dichter Wimpern, die auf ihren Wangen auflagen. Wie Schneewittchen, dachte Pia, aber sie atmete.
Pia fasste die schlafende Frau vorsichtig an der Schulter an. »Frau Markowa, bitte wachen Sie auf!«
Sie rührte sich nicht. Ihre Haut fühlte sich nicht sonderlich warm an. Von Fieber keine Spur. Keine Medikamente auf dem Nachttisch, keine benutzten Taschentücher.
»Frau Markowa. Ich bin es, Pia Korittki von der Polizei. Wir müssen mit Ihnen sprechen! Es geht um Tizia von Alsen.«
Die Schlafende zuckte nur, versuchte, sich unter der Hand an ihrer Schulter wegzudrehen. Warum wachte sie nicht auf?
»Frau Markowa!« Pias Stimme war jetzt nicht mehr gedämpft. Sie rüttelte am Oberarm der Frau – keine Reaktion. Irgendetwas stimmte hier nicht. Pia sah mit gerunzelter Stirn auf Oxana Markowa hinunter. Dann zog sie ihr Telefon hervor und wählte die Nummer der Einsatzleitstelle.
»Ich bekomme sie nicht wach«, sagte Pia zu Broders, als sie wieder unten war. Sie sah Jörg Seesen forschend an. »Was ist los mit ihr? Nimmt Ihre Freundin Medikamente ein?«
»Ich habe sie eben auch nicht wach bekommen.« Er schüttelte verwirrt den Kopf. »Das liegt bestimmt
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