Düsterbruch - Almstädt, E: Düsterbruch
unkenntlich geworden im Laufe der Zeit, aber die Textilien aus Kunstfaser – eine Babydecke? – waren erhalten geblieben.
Pia zwang sich, noch einmal näher heranzutreten und in die Öffnung zu leuchten. Sie musste sich vergewissern, dass sie sich nicht täuschte. Neben den Kellerausdünstungen nahm sie auch den Geruch ranziger Butter wahr. Sie hatte richtig gesehen: Die Leiche hatte in hoher Feuchtigkeit und mit nur geringer Sauerstoffzufuhr gelegen, daher hatte Fettwachsbildung eingesetzt. Pia hatte noch nie eine Wachsleiche gesehen. Die nüchterne Analyse half ihr, die Nerven zu behalten. Justina von Alsen, wer anders als das vor langer Zeit verschwundene Baby sollte das hier sein? Sie hatte Düsterbruch also gar nicht verlassen.
Pia riss sich von dem verstörenden Anblick los und ging wieder hinauf in die Küche. Ihre Beine fühlten sich wacklig an, und ihr war übel. Jörg Seesen saß mit den auf dem Rücken geschlossenen Handgelenken sehr unbequem und in sich zusammengesunken auf einem Hocker. Als sie eintrat, fuhr er auf und starrte sie an.
Pia musterte Seesen. Er sah so aus, als würde er gleich umkippen. »Ich habe genug gesehen«, sagte sie. »Alles Weitere werden wir in Lübeck bei einer offiziellen Vernehmung besprechen.«
»Was ist da unten?«, fragte Broders.
»Die Leiche eines sehr kleinen Kindes. Man hat sie in einer Höhlung im Fundament versteckt.«
Broders riss die Augen auf. »Ist es …?« Er biss sich auf die Zunge und warf Seesen einen beunruhigten Blick zu. »Dann sind wir wohl gerade noch rechtzeitig gekommen, bevor wichtiges Beweismaterial vernichtet werden konnte«, sagte er.
Im Lübecker Polizeihochhaus fand am späten Vormittag eine erste offizielle Vernehmung von Jörg Seesen nach dem Leichenfund im Keller seines Hauses statt. Gabler war anwesend, ein Rechtsanwalt, die zuständige Staatsanwältin, Wilfried Kürschner und Heinz Broders.
Broders musste an Pia denken. Sie hatte nach ihrer Ankunft in Lübeck darauf bestanden, ihren Sohn bei ihrer Mutter abzuholen. Um den ständigen Konflikt, den sie mit sich auszutragen hatte, beneidete er sie nicht. Andererseits: Da war nun jemand, der zu ihr gehörte. Wenn alles gutging, ihr Leben lang. Er seufzte unhörbar und konzentrierte sich auf die Vernehmung.
»Wie geht es Oxana?«, wollte Jörg Seesen wissen.
»Sie wird wieder gesund, Herr Seesen. Ihr Bruder ist jetzt bei ihr«, beruhigte ihn sein Anwalt.
»Ich habe Oxana nichts angetan. Ich könnte nie …«
»Frau Markowa hat dem Krankenhauspersonal erzählt, dass sie das Schlafmittel selbst eingenommen hat«, erklärte der Anwalt. »Sie meinte, sie hätte nächtelang nicht richtig schlafen können und deshalb zwei von den Tabletten eingenommen. Das war wohl etwas zu viel.«
»Lassen Sie uns zunächst mal über die Ereignisse heute Morgen in Ihrem Haus sprechen, Herr Seesen.« Gabler sah müde aus. Gestern Abend seine große Feier, dann noch mitten in der Nacht die Nachricht von Tizias Verschwinden, heute Vormittag gleich diese Vernehmung.
»Ich wusste nicht, dass Justinas Leiche all die Jahre über bei uns im Keller versteckt war«, sagte Seesen aufgebracht.
»Wieso haben Sie dann die Kellerwand geöffnet und das Versteck freigelegt?«
»Mona Falke hatte mir alles erzählt.«
»Was hat Frau Falke Ihnen gesagt?«
»Was damals wirklich mit Justina passiert ist«, stieß er hervor. Dann leiser: »Warum Mutter sich umgebracht hat.«
»Berichten Sie bitte der Reihe nach.«
»Das ist alles schon so lange her. Es geht um die Zeit, in der Justina von Alsen entführt worden ist. Mona hat mir gesagt, dass sie damals mit meinem Onkel Bert zusammen war. Er soll Andrés Vater sein! André ist demnach Berts Sohn und mein Cousin … Sie hatte aber gute Gründe, warum das niemand in Düsterbruch wissen sollte.« Er schüttelte ratlos den Kopf. »Mein Großvater hatte meinen Onkel Bert vom Hof gejagt. Er muss sich etwas Schlimmes zuschulden haben kommen lassen, doch bei uns in der Familie wurde nie über Bert gesprochen. Mein Vater hatte zu dem Zeitpunkt schon den Hof übernommen. Mona hat damals für die von Alsens gearbeitet. Sie sagte mir, dass auch Bert des Öfteren schwere oder schmutzige Arbeiten für die von Alsens erledigt hat. Er soll immer knapp bei Kasse gewesen sein. Als der große Silvesterball geplant wurde, hat Veronika von Alsen Mona von dem Familienschmuck vorgeschwärmt, den Theo ihr extra dafür aus dem Bankschließfach holen würde. Da wusste Veronika wahrscheinlich noch
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