Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)
Fantasie nachzuhängen. Die Einzigen, die auf dieser Welt etwas bewirken konnten, waren wir selbst.
Wir segelten durch die Nacht, und obwohl Henry mir immer wieder versicherte, dass kaum Zeit vergangen war, kam es mir vor, als dauerte unsere Fahrt ewig. Das dunkle Ufer des Sees kam einfach nicht näher. Wir schwebten nur in der Dunkelheit herum.
Der Schmerz in meiner rechten Hand war schlimmer geworden. Den Schmerz selbst konnte ich ertragen, doch nichts würde mir meine Finger zurückbringen. Zum ersten Mal empfand ich einen gewissen Groll.
Ich hatte einen Teil meines Körpers geopfert.
Ich hatte etwas weggegeben.
Und im Gegenzug würde ich das Leben meines Bruders bekommen. Er würde leben – und nicht einfach nur leben. Er wäre immun gegen jede Krankheit, der Inbegriff von Gesundheit und Kraft. Er würde noch schöner und begabter sein als zuvor. Welche Chancen hätte ich dann noch bei Elizabeth?
Selbst wenn ich mein ganzes Wollen darauf ausrichten und es mit aller Kraft versuchen würde, könnte ich sie jemals für mich gewinnen? Auch ich hatte ihre Lippen geküsst. Ich hatte ihren Wolfsgeruch gewittert und ihr Blut geschmeckt wie ein Vampir, der immer hungrig auf noch mehr ist. Konrad kannte sie nur zum Teil – ihre Anmut und Güte, ihren Humor und ihre Intelligenz. Doch ihre volle Kraft, ihre Wildheit und ihre Leidenschaft hatte er nicht erlebt.
Ich kannte sie besser und würde sie nun nie bekommen – und zusätzlich mein Leben lang ein Krüppel sein.
Ich spürte das Fläschchen an meinem Bein, und sein Gewicht war viel schwerer, als es bei seiner geringen Größe richtig schien. Ohne mir klarzumachen, was ich tat, zog ich es heraus.
Was würde ein Tropfen bewirken? , fragte ich mich. Nur ein Tropfen. Trotzdem wäre dann noch genug da für Konrad. Würde ein Tropfen meine Schmerzen abklingen lassen? Würde er bewirken, dass mir wie bei einem Seestern neue Finger aus den geschwärzten Stummeln wuchsen?
Ich zog das Fläschchen aus seiner Hülle und betrachtete seinen dunklen Glanz im Mondlicht. Wenn Polidori davon überzeugt war, dass es seine zerschmetterten Beine heilen würde, dann würde es bestimmt auch zwei unbedeutende Finger sprießen lassen.
»Victor«, sagte Henry.
»Hm, was?«, fragte ich gereizt.
»Steck es lieber wieder in die Tasche. Wenn das Boot schlingert, lässt du es vielleicht fallen.«
Ich bemerkte, dass auch Elizabeth mich genau beobachtete.
Ich schnaubte. »Wenn du meinst.« Ich schob das Fläschchen wieder in die Tasche.
In der Kajüte des Bootes bewegte sich etwas.
»Nur ein verirrter Fisch, der da herumzappelt«, sagte ich mit einem Lachen. Aber ich blickte zum Ufer. Wir waren immer noch gut eine halbe Stunde entfernt.
Elizabeth machte rückwärts einen Schritt auf mich zu. »Victor, dort drin ist etwas.«
Ich sah das Aufblitzen von Augen. Ein fürchterlicher, lang gestreckter Schatten brach aus der Kajüte hervor, hielt direkt auf mich zu und versenkte seine Zähne in meinem Bein. Ich brüllte auf, doch nicht vor Schmerz, denn irgendwie hatten die langen Zähne nur meine Hose durchbohrt.
Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, was dieses Wesen war. Der Mond hatte Krake in eine gespenstische Erscheinung mit schwarzen Augen und einem breiten, zerklüfteten Maul verwandelt. Mit unnachgiebig zusammengepressten Zähnen zog er nach hinten und riss mir die Hosentasche heraus.
»Das Elixier!«, schrie ich, als das Fläschchen in hohem Bogen herausflog und auf den Boden prallte.
Sofort stürzte sich der Luchs mit aufgerissenem Maul darauf, als wollte er es schnappen und zermalmen.
Henry stand am nächsten und trat Krake blitzschnell gegen den Kopf. Mit einem Fauchen wich der Luchs zurück, fletschte die Zähne, sprang auf des Kajütendach und blickte mit schnellen Kopfbewegungen von Henry zu Elizabeth, dann zu mir, unschlüssig, wen er angreifen sollte. Er zeigte die Zähne, die unnatürlich zahlreich und spitz zu sein schienen.
Wir alle zögerten. Henry trat einen Schritt zurück. Auf dem Boden in der Nähe des Ruders rollte das Fläschchen hin und her. Krakes Blicke durchbohrten es. Noch bevor ich mich in Bewegung setzen konnte, sprang Elizabeth darauf zu. Der Luchs machte einen Satz, krachte gegen ihre Beine und warf sie um. Mit einer Pfote schlug er nach ihrem Gesicht. Sie hob den Arm, um den Schlag abzuwehren, aber nicht schnell genug. Sie schrie auf. Dann sah ich die blutigen Spuren der Krallen auf ihrer Wange.
Ich ließ das Ruder los und stürzte mich auf
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