Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)
kaum hörbar.
»Pass du hinter uns auf«, wies ich ihn an. »Elizabeth, behalte du den oberen Bereich im Blick. Er kann gut klettern.«
Als wir den Aufzug verließen, knarrten seine Holzbretter kurz, und dieses Geräusch erschien ungeheuer laut in dem stillen Haus. Wieder einmal verfluchte ich mich, dass ich den Feuerhaken oder Polidoris Keulenstock nicht mitgenommen hatte. Langsam schlichen wir durch den Gang und blieben abwartend stehen, wo es zum Klosett und dem Schlafzimmer abging.
Ich lauschte. Ich schnupperte, ob ich Krake vielleicht riechen konnte. Doch er war das Raubtier, nicht ich, und seine Ohren und Nase waren feiner. Vorsichtig blickte ich um die Ecke. Der Flur war leer.
An der geschlossenen Küchentür vorbei eilten wir weiter auf das Empfangszimmer zu. Als wir uns näherten, wurde im schwachen Licht der knisternden Glut mehr von dem Raum sichtbar.
Auf dem Kaminsims tickte Polidoris Uhr. Es war jetzt halb zehn. In dreißig Minuten würden die Tore der Stadt geschlossen und erst morgen um fünf Uhr wieder geöffnet werden.
Wir durften aber auf keinen Fall in der Stadt eingeschlossen bleiben! Das Elixier musste innerhalb von vier Stunden nach seiner Fertigstellung eingenommen werden!
Vorsichtig schlich ich mich ins Zimmer, weit genug hinein, dass ich den Teppich vor dem Herd sehen konnte. Dort saß Krake mit dem Rücken zu uns und starrte wie hypnotisiert in die Glut. Die Ohren hatte er steil aufgestellt.
Ich drehte mich zu den anderen um und bedeutete ihnen, mir zu folgen. Hinter dem Luchs konnten wir vorbeischleichen.
Bei jedem Schritt behielt ich Krake im Auge, doch seine Aufmerksamkeit war wie gebannt auf die Glut gerichtet. Als wir den Raum halb durchquert hatten, hörte ich etwas – wie ein Zischen, das von der Feuerstelle kam. Es brauchte eine Weile, bis ich begriff, dass es Polidoris Stimme war, die durch den Kamin zu Krake emporstieg. Ich verstand nicht, was er sagte, und ich wollte auch nicht wissen, auf welch teuflische Art sich die beiden verständigten. Mit jedem weiteren meiner Schritte schien Polidoris Stimme lauter und drängender zu werden, und als sie innehielt, war die Stille wie ein plötzlich lautes Geräusch.
Die Uhr tickte. Krake drehte sich um und starrte uns an.
»Lauft!«, schrie ich.
Krake fauchte und jedes Haar an meinem Körper sträubte sich.
Ich erreichte die Tür zum Laden und riss sie auf. Lampenlicht sickerte von der Straße durch die schmutzigen Fenster. Krake, dicht hinter uns, stieß ein schreckliches Kreischen aus. Wir rasten durch den Laden, stießen die Tür auf und rannten so schnell wir konnten über die Pflastersteine der Wollsteingasse davon.
Bevor wir um die Ecke bogen, schaute ich zurück, konnte aber nicht sehen, ob Krake uns verfolgte. Wir rannten weiter, bis wir einen Platz erreichten, wo Fackellicht leuchtete und Menschen sich herumtrieben, wenn auch vorwiegend betrunkene. Hier hielt ich an und krümmte mich völlig außer Atem zusammen. Meine amputierten Finger hämmerten, als wären sie noch immer da.
»Wir brauchen die Pferde«, sagte Henry keuchend. »Wir müssen zu eurem Stall gehen.«
Von St. Peter schlug es die Viertelstunde. Noch fünfzehn Minuten bis zehn Uhr.
»Wir schaffen es nicht rechtzeitig bis zum Ufertor«, sagte ich. Unser Haus war zu weit entfernt. Selbst wenn wir den ganzen Weg rannten, die Pferde holten und dann im vollen Galopp zum Tor ritten, würde es für diese Nacht schon verriegelt sein.
»Und was hast du dann vor?«, wollte Henry wissen.
»Das Flusstor. Wir sind keine zwei Minuten davon entfernt.«
Das Flusstor war vom Wasser aus der einzige Zugang zur Stadt. Aber auch der Hafen wurde kurz nach zehn geschlossen. Zwei schwere Ketten, die zwischen den beiden Ufern befestigt waren, wurden dann gehoben, damit kein Schiff mehr ein- oder auslaufen konnte.
Henry schaute mich an, als hätte ich Fieber. »Wir haben doch kein Boot!«, sagte er.
»Wir besorgen uns eins.« Und schon rannte ich los. »Aber wir müssen uns beeilen. Der Wind kommt von Südwest. Der bläst uns direkt nach Bellerive!«
Elizabeth und Henry folgten mir. Sie konnten leicht mithalten, denn ich war von den erlittenen Qualen doch sehr geschwächt und kämpfte um Luft. Wir näherten uns den Befestigungswällen der Stadt, und auf der breiten Straße, die hinunter zum Hafen führte, sah ich drei Wachsoldaten mit Fackeln, die auf dem Weg zum Tor waren, um es für die Nacht zu schließen.
»Schnell!«, keuchte ich. Und unter Aufbietung meiner
Weitere Kostenlose Bücher