Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)
zusätzlich Schub bekam.
Auf beiden Seiten sah ich, wie die gewaltigen Kettenglieder eines nach dem anderen die Oberfläche durchbrachen. Wenn auch nur eines uns traf, würde es unser Boot zerschmettern – und uns dazu. Ich griff das Ruder fester. Ich würde von meinem Kurs nicht abweichen.
Wir waren fast da, gleich würden wir die Linie überqueren. Links und rechts schossen die Kettenglieder in die Luft und bedachten uns mit Gischt und Seegras, näherten sich rasend schnell unserem Boot. Fast waren wir hindurch, aber noch nicht ganz. Ich biss die Zähne aufeinander. Und dann, keine drei Meter hinter meinem Ruder, durchbrach die Kette in ganzer Länge die Wasseroberfläche wie ein großes Meeresungeheuer, das auftaucht, um Luft zu holen.
»Wir haben es geschafft!«, schrie Elizabeth.
»Gute Zusammenarbeit!«, rief ich.
Henry stieß hörbar die Luft aus, schüttelte den Kopf und hielt sich an den Tauen fest. »Für so ein abenteuerliches Leben bin ich nicht geschaffen«, sagte er laut. »Das hätte auch anders ausgehen können, Victor!«
»Denk lieber daran, was für fabelhaftes Material du jetzt hast, Henry«, meinte ich und ließ mich völlig ausgelaugt neben dem Ruder nieder.
Ich kannte das Ufer gut, auch bei Mondlicht. Weiter vorne sah ich die Landspitze von Bellerive und stellte den Kurs darauf ein. Wenn der Wind weiter so kräftig wehte, wären wir innerhalb einer Stunde beim Bootshaus des Schlosses.
»Das Elixier?«, fragte ich in plötzlicher Angst. »Elizabeth, hast du es noch?«
Vorsichtig zog sie es aus der Tasche ihres Kleides.
»Ist es noch heil?«, fragte ich und strecke die Hand aus.
»Traust du mir nicht?«, fragte sie etwas gereizt.
»Es beruhigt mich, wenn ich es halten kann.«
Etwas widerstrebend gab sie es mir. Ich ließ das Fläschchen aus seiner schützenden Lederhülle gleiten. Das Glas war nicht zerbrochen und der Stöpsel saß noch fest. Ich steckte es in die Hülle zurück und dann in meine eigene Tasche.
Der Wind blieb beständig, die Segel mussten nicht neu eingestellt werden und im Augenblick war wenig zu tun. Henry kam wieder zum Steuer.
»Was ist mit Polidori?«, fragte er.
»Der Sturz war nicht hoch genug, um ihn ernsthaft zu verletzen«, erwiderte ich.
»Wir können ihn nicht in seinem Keller eingesperrt lassen«, sagte Elizabeth.
»Der Schuft hat wahrscheinlich noch ein paar andere Möglichkeiten, zu entkommen«, sagte ich. Ich konnte kein Mitleid für diesen Kerl aufbringen und war über das Mitgefühl meiner Cousine erstaunt. »Aber morgen geben wir der Stadtwache Nachricht. Sie kann ihn aus seinem verbotenen Labor retten.«
Schweigend segelten wir eine Weile dahin. Elizabeth blickte hinauf zu den Sternen. Ich musste daran denken, wie oft wir das gemeinsam beim Dahintreiben getan hatten und uns dann unsere Gedanken erzählten und teilten.
»Kannst du jetzt deine Zukunft sehen?«, fragte ich sie.
»Nein.« Ihr Gesicht war angespannt, und ich glaubte, Tränen in ihren Augen glitzern zu sehen. »Was ist, wenn es nicht wirkt, Victor?«
Dieselbe Frage war auch mir durch den Kopf gegangen und vermutlich war es bei Henry nicht anders.
»Wir haben etwas Außergewöhnliches getan, wir drei«, sagte ich grimmig. »Wir haben das Elixier des Lebens besorgt. Dazu braucht es keinen Zauberspruch und keine Beschwörung. Es ist auch nichts anderes als Polidoris Wolfsblick. Oder Dr. Murnaus Medizin. Das Elixier wird wirken. Wir müssen es einfach glauben.«
»Aber dadurch wird es nicht wirken«, meinte Henry.
Bevor ich eine Antwort geben konnte, sagte Elizabeth leidenschaftlich: »Wenn unsere Gebete zu Gott irgendeinen Einfluss auf die Geschehnisse dieser Welt haben, dann können wir machen, dass es wirkt. Das müssen wir einfach! Verbannt eure Zweifel, wenn ihr welche habt. Konrad wird wieder gesund!«
Sie hatte mit äußerster Überzeugung gesprochen. Ihr Gesicht glühte. Und auch wenn ich nicht an Gott glaubte wie sie, nickte ich. Und der vertraute, hassenswerte Gedanke stahl sich mir erneut in den Kopf.
Sie könnte die Meinige sein, wenn …
Und da wünschte ich mir, ich könnte beten. Dann würde ich darum beten, frei zu sein von meinen abwegigen Gedanken. Ich würde beten: Lass ihn leben. Wie beruhigend wäre es, wenn ich glauben könnte, dass es einen freundlichen Gott gibt, der über uns wacht, der Mitleid hat mit unseren Mühen und Leiden und uns gewährt, um was wir ihn bitten. Aber ich wusste, dass es so nicht war und es keinen Sinn ergab, einer solchen
Weitere Kostenlose Bücher