Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)
Stallknechte.
»Der ist wieder in Ordnung, danke«, antwortete ich.
»Ihre Aufführung, das war schon was«, meinte er.
»Dir hat mein Schurkenstück gefallen, was?«, sagte ich erfreut und hoffte auf noch mehr Lob. Viele aus der Dienerschaft hatten das Stück von den hinteren Reihen aus gesehen.
Er nickte. »Oh ja.«
»Der Schwertkampf am Schluss hat viel Zeit gebraucht, bis er saß. Bestimmt hast du dann auch noch meinen großartigen Kreiselschlag gesehen.«
»Bitte ermutige ihn nicht«, sagte Elizabeth und verdrehte die Augen »Sonst will er für uns die ganze Szene noch einmal aufführen.«
»Mir haben die Spielszenen gefallen«, sagte der Stallknecht, »aber wie der junge Herr Konrad Sie am Ende gerettet hat, das war eine echte Heldentat.«
»Ach, ja«, meinte ich und blickte wieder auf meine Kartoffel. »Das war es wirklich.«
»Wie haben Sie das gemacht?«, fragte der Stallknecht meinen Bruder voller Bewunderung. »Ich hätte das für keinen Preis der Welt machen können, nicht mit meiner Höhenangst.«
»Oh, es war gar nicht so hoch, Marc«, antwortete Konrad mit einem leisen Lachen. Er kannte den Namen des Burschen – natürlich. Konrad kannte alle von unserem Personal mit Namen. »Und wie findest du Bellerive?«
»Die Landschaft ist sehr schön«, sagte Marc.
»Wenn du die Möglichkeit hast, solltest du mal mit einem der Pferde in die Vorberge reiten und die Aussicht auf Genf und den Jura bewundern.«
»Das mach ich, junger Herr. Danke schön.«
Einer der Gründe, weshalb ich diese Abendessen nicht mochte, war der, dass Konrad so viel besser mit der Dienerschaft umgehen konnte als ich. Wenn wir schließlich alle am Tisch saßen, Herren und Diener vereint zu einer großen und ungewöhnlichen Familie, fing mein Zwillingsbruder mühelos ein Gespräch mit jedem an. Er fragte Maria, unsere Haushälterin, wie der gebrochene Arm ihres Neffen heilte. Er fragte Philippe, den Stallmeister, wie es Prancer ging, unserer trächtigen Stute. Und dann dauerte es nicht lange, bis die Dienerschaft selbst ihre Geschichten erzählte, die ich wirklich gerne hörte, denn ihr jeweiliges Leben war so anders als meines. Kurt, unser Diener, war früher Soldat gewesen, hatte in einer blutigen Schlacht mitgekämpft und einige Zehen verloren. Und Celeste, das Dienstmädchen meiner Mutter, war bei einer bösen Herzogin in Frankreich in Stellung gewesen, die sie mit ihrem Pantoffel schlug, wenn ihr der Kuchen nicht schmeckte.
Nachher halfen wir dem Personal, Geschirr, Töpfe und Pfannen abzuwaschen, und ich bewunderte sie für die Arbeiten, die sie jeden Tag für uns verrichteten.
Und ich war heilfroh, dass wir das nur ein Mal in der Woche machten.
Auf dem See treiben und zum klaren Abendhimmel aufblicken, das war der ideale Zustand.
Es war Dienstag nach dem Abendessen. Henry, Elizabeth, Konrad und ich ließen uns auf Kissen liegend in einem Ruderboot auf dem See treiben. Das war eine unserer Lieblingsbeschäftigungen. Wir waren so nah am Wasser aufgewachsen, dass der See wie ein zweites Zuhause für uns war. Konrad und ich hatten, schon bald nachdem wir laufen konnten, Segeln gelernt. Damit waren wir so vertraut, dass sich unsere Eltern niemals Sorgen machten, wenn wir Zeit auf dem Genfer See verbrachten.
Heute Abend hatten wir einen Grund zu feiern, denn Henry sollte nun einen ganzen Monat bei uns bleiben. Sein Vater war gerade zu einer längeren Geschäftsreise aufgebrochen, und unsere Eltern hatten Henry mit Freuden eingeladen, solange bei uns zu wohnen.
»Ich würde gerne wissen, warum Wilhelm Frankenstein so plötzlich weggegangen ist«, sagte er nach einer Weile, nachdem wir mit unserer Geschichte von der Dunklen Bibliothek fertig waren. »Das ist Stoff für ein wunderbares Theaterstück.«
Wenn Henry aufgeregt war, erinnerte er mich noch mehr an einen seltsamen, bleichen Vogel. Sein Kopf mit den blonden Haaren drehte sich ruckartig von einer Person zur anderen, seine Augen leuchteten, und manchmal ließ er seine Finger zum Nachdruck so flattern, als wollte er jeden Moment losfliegen.
»Vielleicht war er verhext«, meinte Elizabeth, »verrückt geworden von all dem, was er gelernt hat.«
»Interessant«, sagte Henry mit einem beifälligen Nicken.
»Es ist eher wahrscheinlich, dass ihm unterwegs etwas zugestoßen ist«, sagte Konrad.
»Banditen, die ihn ermordet und seinen Körper in den Bergen beseitigt haben«, überlegte Henry eifrig. »Ich mag Banditen, die sind immer gut für eine tolle
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