Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)
Kante und ergriff mein anderes Bein. Dann tauchte sein Kopf auf, während er sich langsam an meinen Füßen in den Fahrstuhl zog.
Ich trat um mich und versuchte, ihn abzuschütteln, doch sein Griff war so fest, dass ich Angst hatte, seine eisernen Finger würden meine Beine zerquetschen.
Henry packte eine von Polidoris Händen und versuchte, seine klammernden Finger von meinen Knöcheln wegzubiegen. Elizabeth trat nach seinem Kopf. Doch es war, als wäre er gegen Schmerz unempfindlich geworden und seine Muskeln und Sehnen würden niemals müde.
Ich packte das Seil noch fester und merkte, dass Polidori, wenn er an mir zog, gleichzeitig mit am Seil zog, und so stiegen wir weiter, wenn auch langsam. Ich blickte nach oben und sah, dass wir nicht mehr weit von der steinernen Kellerdecke entfernt waren.
»Henry!«, brüllte ich. »Zieh weiter!«
»Was?«, schrie er.
»Bring uns nach oben!«
Da blickte auch Polidori hoch und schien meinen Plan zu begreifen, denn er verdoppelte seine Anstrengung, an mir in den Fahrstuhl zu klettern. Sein Bauch, seine Hüfte und Beine baumelten noch immer über der Kante.
Noch knapp ein Meter, und er musste entweder loslassen oder er würde zerquetscht.
Elizabeth trat noch einmal mit aller Kraft nach ihm und für einen Moment verlor er den Griff und rutschte an meinen Beinen hinab. Ich dachte, er würde nun ganz abstürzen, doch dann erwischte er wieder meine beiden Fußgelenke.
Nur noch ein guter halber Meter bis zur Decke.
Mit übernatürlicher Kraft und Geschwindigkeit kletterte Polidori erneut an mir hoch, zog sich an meinen Beinen in die Höhe, griff nach meiner Hüfte. Ich brüllte und trat nach ihm, gleichzeitig zog ich mit Henry am Seil.
Der Fahrstuhl schwankte weiter nach oben.
»Lass los!«, schrie ich ihn an. »Oder du wirst zerquetscht.«
»Und du verlierst deine Füße!«, schrie er zurück.
Entsetzt sah ich, dass er recht hatte. Er hatte meine Füße über die Kante gezogen.
Einen Augenblick bewegte sich niemand. Nur unser animalisches Grunzen und Keuchen war zu hören.
»Dann lebe ich eben ohne sie!«, schrie ich dem Alchemisten in das von Säure zerfressene Gesicht. »Elizabeth, Henry! Weiter, so fest ihr könnt!«
Mit aller Kraft zog ich am Seil. Polidori drehte das Gesicht zu den Steinen, die immer näher kamen – und ließ los. Der Fahrstuhl, plötzlich leichter, schoss höher. Ich riss meine Beine zurück, Stein schrappte an meinen Füßen, als sich die Lücke vor uns schloss.
Nun war es total dunkel um uns, denn keiner von uns hatte eine Kerze oder Laterne mitgebracht. Einen Moment saßen wir einfach nur heftig keuchend auf dem Fahrstuhlboden.
»Wir sollten weitermachen«, sagte ich. »Vielleicht hat er eine Möglichkeit, den Fahrstuhl wieder runterzuholen.«
»Ja, du hast recht«, bestätigte mich Elizabeth.
Ich spürte ihren Atem im Gesicht und merkte, wie nahe sie bei mir war.
»Du warst unheimlich tapfer, Victor«, sagte sie.
Mit den drei Fingern meiner rechten Hand strich ich ihr über die Wange. Dann näherte ich mein Gesicht dem ihren und unsere Lippen trafen sich in der Dunkelheit. Ich spürte die Tränen auf ihren Wangen und schmeckte das Salz auf der Zunge.
Abrupt stand sie auf. »Kommt schon«, sagte sie. »Sehen wir zu, dass wir nach oben kommen.«
Von unten hörten wir Polidori rufen und fluchen. Ich konnte nur wenige Worte verstehen, denn immer wieder schien er in einer anderen Sprache zu wüten.
»Er wollte es für sich selbst«, schnaufte ich, als wir zusammen den Fahrstuhl höher hievten. »Er wollte seine Beine zurückhaben.«
»Er hatte nie vor, es uns zu geben«, sagte Elizabeth. »Er hat uns nur benutzt, damit wir die Bestandteile für ihn zusammensuchten, dieser Teufel.«
Plötzlich kam der Fahrstuhl mit einem Ruck zum Stehen und ich sah einen schwachen Lichtspalt vor uns. Die geheime Wandverkleidung! Ich schnappte nach Luft, als würden wir aus dem Meer auftauchen, trat vor und wollte sie aufstoßen.
»Warte!«, flüsterte Henry und riss mich zurück.
»Was ist?«, wollte ich wissen.
»Krake«, sagte er nur.
15. Kapitel
Flucht in der Nacht
Angespannt stieß ich die Tür des Fahrstuhls auf, gefasst darauf, dass uns der Luchs anspringen würde.
In fast völliger Dunkelheit erstreckte sich der leere Gang vor uns, nur ein schwaches orangefarbenes Flackern kam aus dem Empfangszimmer.
»Als wir gekommen sind«, flüsterte ich den anderen zu, »lag Krake vor der Feuerstelle.«
»Hoffentlich schläft er«, hauchte Henry
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