Duftspur
Man sollte auch bei der Eheschließung Zeitverträge anbieten und nur wenn es gut läuft das Verhältnis verlängern.
Quirlige Kinder drängeln an mir vorüber. Ich quetsche mich in die Ecke einer kleinen Empore, um den hungrigen Strom Grundschüler auf dem Weg zum Abendbrot passieren zu lassen. Dabei lasse ich meinen Blick aus dem kleinen Fensterchen schweifen. Wow, was für eine Aussicht. In der Ferne sanfte Hügelketten, beschienen vom wundervollen Licht der frühen Abendsonne, unten im idyllischen Tale schlängelt sich die Sieg, oben strahlt der wolkenlose Himmel blau, dazwischen ein fleißiger Handwerker, der dabei ist, eine Burgmauer zu restaurieren. Blödmann, schau doch genau hin! Kalle steht strack in der Koje. Der Typ klopft keine Steine, das sind Finger. Da hängt einer außen dran und der Mann haut ihm kräftig auf die Pfoten. Ich muss an Jörn denken. Könnte das nicht Udo sein, ereifert sich Kalle. Wer, der da hängt oder der da haut? Der da haut, meint Kalle, den, der da hängt, sehen wir doch nicht. Während ich mich auf das Bild einstelle, das mir mein innerer Detektiv vorgibt, beginnt mein Herz spürbar im Hals zu klopfen. Die vermehrte Blutzirkulation erwärmt meine Ohren. Mach mich nicht geck, Elfriede, sage ich zu Kalle und meine kühle Vernunft übernimmt wieder den Führungsanspruch über den Sehnerv. Hier wird doch niemand am helllichten Tag einen anderen über die Mauer springen lassen. Oder doch? Rückwärtig werde ich am Ärmel gezupft: »Kannst du wechseln«, fragt mich ein verstrubbelter Junge mit Matsch im Gesicht und hält mir einen Fünfeuroschein hin. Geistesabwesend schüttle ich den Kopf, will wieder auf den freien Platz, der von den halb hohen Burgmauern umgeben ist, schauen, doch nichts und niemand ist zu sehen. Eine Personenbeschreibung des Kerls könnte ich auch nicht abgeben. Ich habe mir sein Aussehen nicht eingeprägt in meiner Verzückung der abendlichen Stimmung.
»Alles klar?«, fragt Jörn, dem meine Verstörung aufgefallen sein muss. Ich nicke beflissen: »Sicher. Tolle Aussicht. Prima Arbeitsplatz«, lenke ich die Aufmerksamkeit auf mein Gegenüber. Heiner, so tu doch was. Kalles Bitten gleicht dem Maries, die mich im Schuhladen drängte, fester an dem Stiefel zu ziehen, der spack um ihre stramme Wade saß. Mit einem Ruck hatte ich das Teil ab und mit einem Riesenkrach landete ich in der Sonderplatzierung für Gesundheitslatschen. Ihr war das peinlich und ich hatte schon vor der Anprobe gewusst, dass das nicht ihr Stiefel werden würde.
»Hast du das auch gesehen?«, wage ich die Frage.
»Was?«
»Na, da unten, auf dem Platz ...?«
»Du meinst die Bastion. Ja, ein prächtiger Baum, nicht wahr?« Hält er mich jetzt für blöd? Dass der Baum schon einige Jahrzehnte dort steht, erkennt selbst ein Wüstenbewohner mit Sand in den Augen und ob Jörn das stattliche Gewächs auch gesehen hat, kann nicht die Frage sein.
»Ich meine den Mann. Arbeitet da jemand als Restaurator?«, frage ich konkret.
»Nicht direkt und nicht zur Zeit. Udo kümmert sich um dies und das. Doch der hat heute frei. Dann wollen wir mal ...«
Übergangslos beginnt der Burgherr seinen kleinen Vortrag, während sich mein Puls langsam wieder normalisiert. Jörn startet bei der ersten urkundlichen Erwähnung im Jahre 1048. Zugegebenermaßen kann ich mich nicht voll auf die Ausführungen zu den Grafen von Sayn, Graf Heinrich IV. und den anschließenden Streitigkeiten konzentrieren. Das Gesehene erzeugt eine Art unscharfes Nachbild und das, was sich aktuell vor meinen Augen abspielt, sollte ich mir auch einprägen, denn ich werde mich sicherlich verlaufen in den drei Teilen des ehrwürdigen Gemäuers. Kalle, da war nichts. Doch, beharrt der kleine Detektiv trotzig. Die Historie aus Jörns Mund rauscht weiter an mir vorüber. Hellhörig werde ich an der Stelle, in der es heißt, dass die Burg auch einmal als Justizamt nebst Gefängnis genutzt wurde. Ob da tatsächlich ein Verbrechen eben vor meinen Augen stattgefunden hat? Ich muss gleich sofort nachsehen. Jörn plaudert und plaudert, er scheint nicht von hier zu sein, ich nicke hin und wieder, murmle ›ja‹ und ›interessant‹ und werde an der Küche vorbeigeführt, in den neueren Trakt. Es riecht nach Hühnerbeinen, Fritten und Früchtetee. Die Küche würden wir uns nach der Mahlzeit ansehen, jetzt stünden wir da nur im Weg, denn es tobe die allabendliche Schlacht derart, als ginge es um die letzten Vorräte innerhalb einer von feindlichen
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