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Dumm gelaufen: Roman (German Edition)

Dumm gelaufen: Roman (German Edition)

Titel: Dumm gelaufen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Matthies
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eine solche Gegenwehr nicht gewohnt.
    Hm.
    »Okay, weiter.«
    Der Jockey redet auf Stardust ein, streichelt seinen Hals, versucht es mit Strenge. Nichts hilft. Erst als die anderen Helfer hinzukommen und es schließlich zu viert versuchen, brechen sie seinen Willen und bekommen ihn in die Box. Dann der Start: Die Pferde preschen los, gehen in die erste Kurve, das Feld wird auseinandergezogen. Als es auf die Gegengerade zugeht, weg von den Tribünen, wechseln die Kameras. In manchen Momenten ist Stardust gar nicht zu sehen, weil das Interesse natürlich den Führenden gilt. Doch soweit sich das Rennen verfolgen lässt, ist nichts Ungewöhnliches zu erkennen. Zumindest nicht bis eingangs der Schlusskurve. In der Spitzengruppe herrscht inzwischen ein erbitterter Kampf, während zwei, drei weitere Jockeys versuchen, noch aufzuschließen. Als es in die letzte Kurve geht, ist Stardust bereits so weit abgeschlagen, dass der Jockey seine Ambitionen auf das Siegertreppchen hat fahrenlassen. Er will das Rennen würdevoll zu Ende bringen, mehr aber auch nicht.
    Dann knickt auf einmal Stardusts linkes Vorderbein weg, er stürzt, der Jockey ist zu überrascht, um aus dem Sattel zu kommen, und wird unter dem Pferd eingequetscht, das über das Geläuf rutscht wie über eine Eisbahn. Der verstörte Störtebeker (ich entschuldige mich ausdrücklich für dieses Wortspiel), das letzte Pferd im Feld, kann gerade noch ausweichen. Dann liegen Stardust und sein Jockey am Bahnrand, der Jockey ist bereits bewusstlos, und Stardust versucht verzweifelt, auf die Beine zu kommen. Quälende Minuten verstreichen, sinnloses Bemühen, letztes Streben, die Kamera hält eisern drauf, dann endlich eilen die Helfer herbei und entfalten schwarze Laken, die sie hoch halten, damit das Elend nicht länger zu sehen ist.
    »Können wir uns den Sturz noch einmal ansehen?«, frage ich.
    Fehler. Ich weiß es, bevor er antwortet.
    »Was sollte uns davon abhalten?«
    Dass ich dir eine überbrate. Ich werfe Rufus meinen Letzte-Warnung-Blick zu.
    Mein Bruder weiß, was das bedeutet: »Ich mach ja schon.«
    Wir sehen uns den Sturz an, vorwärts, rückwärts, in Zeitlupe, noch einmal, vorwärts, rückwärts, Vergrößerung hier, Vergrößerung da, vorwärts, rückwärts. Schließlich gebe ich auf. Störtebeker hatte recht: Sonderbar sieht das schon aus, irgendwie. Andererseits: Sieht es nicht immer sonderbar aus, wenn ein Pferd stürzt? Für eine richtige Beurteilung kenne ich mich mit Pferden auch einfach zu wenig aus. Ohne weitere Expertise würde ich also sagen: keinerlei Anzeichen von Fremdeinwirkung, keine fremde Macht oder höhere Gewalt, keine fatale Sternenkonstellation, kein Meteoriteneinschlag, kein Mord. Ich bin drauf und dran, Rufus zu fragen, was wir jetzt machen sollen, als mir einfällt, dass die Folgen einer weiteren Frage unserem Verhältnis dauerhaften Schaden zufügen könnten.
    Stattdessen sage ich also: »Eine Fremdeinwirkung kann ich da nicht erkennen.«
    »Was nicht bedeutet, dass keine vorgelegen hat.«
    »Vielleicht sollten wir …«
    »… eine dritte Meinung einholen.«
    »Am besten von einem Pferd oder einem Zeb…«
    »… artverwandten Unpaarhufer.«
    Ich sehe meinen Bruder an und schwanke wie so oft zwischen »Mitgefühl« und »zu genervt sein für Mitgefühl«.
    »Es gibt drei rezente Familien von Unpaarhufern«, erklärt er. »Pferde, Nashörner und Tapire.«
    »Und im Klartext bedeutet das bitte was?«
    »Am besten, wir befragen die Zebras.«
     
    Als wir hinter dem Flamingohaus aus unserem Geheimgang klettern, beginnt der neue Tag heraufzuziehen. Erste Vögel zwitschern. Begleitet von einem metallischen Rauschen, verschwinden die beleuchteten Waggons eines ICE zwischen den Bäumen des Tiergartens. Ich atme die frische Nachtluft ein.
    »Heißt ihr beide – äh – Ray?«
    Vor Schreck stolpere ich rückwärts über die Platte, die unseren Geheimgang abdeckt. Ramirez/Annabelle steht über uns gebeugt. Jedenfalls nehme ich an, dass er/sie es ist. Bei manchen Tieren fragt man sich unwillkürlich, wie die Evolution vergessen konnte, sie aussterben zu lassen. Rufus ist ja der Überzeugung, dass man in nicht allzu ferner Zukunft in der Evolutionstheorie eine wissenschaftliche Sackgasse erkennen wird. Er selbst arbeitet an einer Alternativtheorie. Ob er recht hat, weiß ich nicht, doch je länger man mit Flamingos zu tun hat, umso plausibler erscheint seine Einschätzung.
    »Aber sicher doch«, erwidere ich, »ich bin Ray, und das ist

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