Dumm gelaufen: Roman (German Edition)
Headquarter. Kann man sich ja denken. Als wir letztes Jahr im Zuge der Ermittlungen an unserem ersten Fall Teile des Zoos umgraben mussten, bestand Rufus darauf, ein »Koordinationszentrum« einzurichten. Sonst könne er nicht vernünftig arbeiten. Der Konferenztisch kam dann etwas später hinzu – wegen der Geschichte mit Natalies Entführung. Das war ebenfalls letztes Jahr. Da sind die unter dem Zoo lebenden Ratten in unseren Bau eingefallen und haben ein ziemliches Chaos angerichtet. Am Ende allerdings war es nicht halb so groß wie das, das Rocky im Gegenzug bei den Ratten angerichtet hat.
Apropos Natalie: Rufus zieht sich gerade Bilder von ihr rein. Von heute, wenn mich nicht alles täuscht. Heimlich geschossen, aus dem Osteingang. Natalie, wie sie sich auf ihrem Sonnenflecken räkelt, Natalie, wie sie den ersten Besuchern ihre Muschi präsentiert, Natalie, wie sie ihren Kopf in den Nacken legt und das Rückgrat durchdrückt, Natalie …
»Ray!«, hektisch drückt mein Bruder auf dem Display herum, bis endlich die Menüseite aufpoppt. »Was machst
du
denn hier?«
Ich blicke mich um: »Ist das nicht
unser
Headquarter?«
Um ganz sicher zu gehen, dass Natalies gespreizte Schenkel nicht plötzlich wieder auf dem Display erscheinen, dreht Rufus sein Lieblingsspielzeug um und legt es auf den Bauch. Dunkelheit erfüllt den Raum. Einen Augenblick später allerdings wird unser Headquarter in einen milden, grünlichen Schein getaucht. Das ist neu. Ich blicke mich um und entdecke eine Art Lichtschlauch, der in einem Oval um die Decke führt. Spacig. Mein Bruder hat sich den Winter über eindeutig zu viele Star-Trek-Folgen reingezogen.
»Du warst ja schon ganz schön fleißig heute«, bemerke ich.
»Ich dachte, ein wenig … Innovation könnte nicht schaden. Das Licht schwingt auf einer Wellenlänge von 470 Nanometern. Regt die Tätigkeit des assoziativen Cortex an.«
Nanometer … Assoziativer Cortex … Womit man sich so alles beschäftigt, wenn die Verlobte ständig mit anderen Männchen rummacht.
»Interessant«, versichere ich. »Was mich zu der Frage bringt, ob du etwas über …«
»… das Verschwinden von Elsa herausgefunden hast?«, führt Rufus meine Frage zu Ende, um gleich darauf fortzufahren: »Die Antwort ist: ja. Wenngleich meine Recherchen nicht die Erfolge gezeitigt haben, die ich mir erhofft hatte.«
Erfolge gezeitigt … Schade, dass es keine aufblasbaren Erdmännchen-Weibchen aus abwaschbarem Plastik gibt. Könnte ihm möglicherweise helfen.
»Warte«, sagt Rufus jetzt, »ich zeig es dir.« Er dreht sein Smartphone wieder auf den Rücken, tippt auf ein paar Symbolen herum und schiebt es zu mir herüber. »Halt es quer, dann lässt sich die Schrift besser lesen.«
Ich betrachte das Display. Ein kleines Foto, umrahmt von sehr viel Schrift. Sieht nach einem Zeitungsartikel aus. Auf dem Foto erkenne ich Pfleger Silvio in seinem üblichen Blaumann und mit dem Kaffeebecher, von dem ich annehme, dass er inzwischen mit seiner Hand verwachsen ist. Er steht neben Elsas Käfig, die roten Gummistiefel in einer Pfütze aus Schneematsch, und schaut bedröppelt in die Kamera. Die Tür steht offen, der Käfig ist leer.
»Du musst es quer halten«, wiederholt mein Bruder.
»Es ist scheißegal, wie ich es halte«, maule ich. Der Anblick von Elsas leerem Käfig lässt meinen Magen zusammenschnurren. Ich schiebe meinem Bruder das Smartphone zurück. »Du weißt genau, dass ich nicht lesen kann. Und komm mir jetzt nicht mit ›Dann wird es aber Zeit, dass du das mal lernst‹! Die Scheiße hör ich mir jetzt nicht an, klar? Keine Vorträge. Sag mir einfach, was da steht!«
»Da scheint heute aber jemand eine ausgesprochen niedrige Frustrationsschwelle zu haben.«
»Keine Vorträge.«
»Hm.« Rufus tippt das Smartphone an und dreht es demonstrativ auf die Seite.
Querformat. Ist klar, Brüderchen. Das sind die Momente, in denen ich mir wünschte, mein Bruder Rocky zu sein. Der würde Rufus jetzt eins auf die Glocke geben, und gut ist. Doch ich bin nicht Rocky. Und deshalb bleibt mir nichts anderes übrig, als seine zur Schau gestellte intellektuelle Überlegenheit zu ertragen.
Mein Bruder lehnt das Smartphone gegen einen Siku-Feuerwehrwagen, kreuzt die Vorderbeine über der Brust und lehnt sich in dem halb aufgeblasenen Schwimmflügel, der ihm als Sessel dient, zurück. Die rosa Herzchen-Uhr, die von seinem Klettband baumelt, rutscht ihm auf die Hüfte. Wenn ihm klar wäre, wie bekloppt er mit
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