Dumm gelaufen: Roman (German Edition)
auch Ray. Alle in unserem Bau sind Ray.«
Der Flamingo blickt verunsichert auf uns herab. »Ui«, sagt er.
»Ja«, pflichte ich bei. »Aber nur an ungeraden Tagen. An den geraden Tagen sind wir Bea. Dann bin ich Bea und er ist Bea und alle im Bau sind Bea.«
»Hä …«
»Genau: An ungeraden Tagen Ui, an geraden Hä. Ist genau wie bei dir.«
Der Flamingo sieht zunehmend unglücklicher aus. Sein Intellekt ist bereits nach meinem ersten Satz in die Knie gegangen. »Wie bei mir?«, wiederholt er und ahnt, dass meine Erklärung ihn endgültig zu Fall bringen wird.
»Ja. An geraden Tagen bist du Ramirez, an ungeraden Annabelle.«
Er reibt seinen schmerzenden Hinterkopf an der Rückwand des Flamingohauses. »Dann bin ich abwechselnd Männchen und Weibchen?«
»Jepp. Genau wie wir.«
»Und wie weiß ich, wann ein Tag gerade und wann er ungerade ist?«
Ich überlege. Dann deute ich zum Bahnhof Zoo hinüber: »Siehst du die ICE -Trasse da hinten?«
»Denke schon.«
»Wenn der Zug von da kommt«, ich deute zum Tiergarten hinüber, »dann ist ein ungerader Tag, okay? Und wenn er«, ich deute auf die Hochhäuser, die sich jenseits des Bahnhofs erheben, »von da kommt, dann ist ein gerader Tag. Rechts Weibchen, links Männchen.«
Der Flamingo schaut von links nach rechts, nach links, nach rechts. »Ich weiß nicht, ob ich mir das merken kann.« Leichte Verzweiflung in der Stimme.
Ich bin sicher, dass du es nicht kannst. »Das schaffst du schon.«
Ermutigend klopfe ich ihm auf sein dürres Beinchen, dann flitschen Rufus und ich unter der Hecke durch.
Um zu den Zebras zu gelangen, müssen wir quer durch den Zoo bis hinüber zum Landwehrkanal. Eigentlich ist jetzt die beste Zeit dafür: Opa Reinhard hat seine letzte Kontrollrunde gedreht, es ist noch dunkel, und bis die ersten Besucher kommen, dauert es noch. Wir können uns also relativ frei bewegen. Trotzdem geht mein Bruder, als könne hinter jeder Ecke eine Puffotter lauern, schleicht im Gleichschritt eine Beinlänge hinter mir her und klammert sich an sein Smartphone. So ist er: Gib ihm ein digitales Kommunikationsmittel, etwas zu lesen und eine Kammer mit Tageslichtsimulation, die ihn vor allem schützt, was die Welt über Tage an möglichen Risiken zu bieten hat, und er surft wie ein Held auf der Welle seiner eigenen Intelligenz. Sobald er sich jedoch mit der realen Welt konfrontiert sieht, geht ihm sein pelziges Popöchen ratzfatz auf Grundeis.
»Moralisch ist das ja fragwürdig«, flüstert er, als wir bei einem Kaffernbüffel vorbeikommen, der sich gerade den Schlaf aus seinen Hörnern schüttelt.
Vergiss es, Rufus. Ich werde nicht fragen, was oder wen du meinst.
Wir sind von den Kaffernbüffeln zu den Sumpfbüffeln gelangt, als mein Bruder fortfährt: »Einen Flamingo auf diese Weise zu …«
»… verarschen?«, schlage ich vor.
»Ich fürchte, der Begriff trifft es ganz gut, ja.«
»Aber spätestens morgen erinnert sich dieser dämliche Flamingo nicht mehr daran, dass ich ihn verarscht habe«, wende ich ein. »Macht das meine Verarsche nicht irgendwie moralisch okay … oder so?«
Abrupt reißt das Echo meiner Schritte ab. Ich halte inne. Rufus ist stehen geblieben. Das Smartphone unter das Vorderbein geklemmt, kratzt er sich am Hals, zupft abwesend an seinem Klettgürtel herum, der jedes Mal ein leises Schnalzen von sich gibt, und denkt an seinen griechischen Seelenverwandten. Schließlich haut er sich seine Kralle aufs Ohr.
»Möglicherweise«, sinniert er. »Ist nicht einfach zu beantworten …«
»Rufus!«
Vor Schreck lässt er beinahe sein Smartphone fallen.
»Ist mir scheißegal, ob du eine Flamingoverarsche moralisch irgendwie nicht in Ordnung findest. Können wir jetzt bitte zu den Zebras gehen?«
»Warum nicht?«, antwortet mein Bruder. »Ich mache einfach einen geistigen Vermerk.«
Einen geistigen Vermerk. Ich wende mich ab und stapfe voraus. Einen Tag nach Frühlingsanfang, und schon bin ich reif für den Urlaub.
Das Zebrahaus sieht aus wie eine Kreuzung aus öffentlicher Toilette und Moschee. Es ist rund und hat ein schräges Dach, dem oben in der Mitte eine Art Minarett aufgepfropft ist. Was irgendwie keinen Sinn macht, wie mir aus unerfindlichen Gründen vorher noch nie aufgefallen ist. Denn selbst wenn wir muslimische Zebras oder Esel im Zoo hätten, käme keiner von denen da rauf, um sein morgendliches Ih-Aah zu rufen. Erste bläuliche Schlieren ziehen über den Horizont, und in der benachbarten Kondor-Voliere
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