Dumm gelaufen: Roman (German Edition)
den Film, weil Rufus den im Gehege installierten Kinosaal – ein iPad mit externen Lautsprechern – ins Winterquartier umgezogen hat. Fast jeden Abend hab ich mir dort die Zeit vertrieben mit nach Themenschwerpunkten sortierten Filmen. Selbstverständlich hat mein schlauer Bruder die komplette Wintersaison in Themenschwerpunkte eingeteilt. Wenn Rufus nicht irgendetwas sortieren kann, dann wird er auf der Stelle schwermütig. Einer der Themenschwerpunkte lautete: Kriegsfilme. Ein anderer übrigens: Nouvelle Vague. Während die Kriegsfilmreihe selbst Rocky begeisterte, waren die Abende mit Filmen von Godard, Rivette und Rohmer eher mäßig besucht. Dabei hatte Rufus gehofft, Natalie für François Truffauts
Geraubte Küsse
begeistern zu können. Aber unsere schlampige Schwester zog es auch an diesem Abend vor, Rufus den Seelenfrieden zu rauben, indem sie mit Mads aus dem fünften Wurf rummachte, statt ins Kino zu kommen.
Sergeant Rick starrt mich immer noch unbeweglich an.
»Nein«, sagt er dann und bewegt seinen Kopf langsam hin und her. Ich vermute, das soll ein Kopfschütteln sein.
»Aber irgendwo hab ich dich schon mal im Kino gesehen«, hake ich unbeirrt nach. »Da bin ich mir sehr sicher. Wo hast du mitgespielt? War es vielleicht
Catch 22
?
Des Teufels General
?
Full Metal Jacket
?«
Die Stecknadelaugen fixieren mich erneut, wieder verharrt Rick. Er ahnt vielleicht, dass ich ihn auf die Schippe nehmen will, aber er kann oder will es nicht glauben. Zumindest noch nicht.
»
Platoon
?
Geboren am 4 . Juli
?
Die durch die Hölle gehen
?
Wir waren Helden
?«
Immer noch fixieren mich die Stecknadelaugen von Sergeant Angeber.
»
Good morning, Vietnam
?
Hunde wollt ihr ewig leben
?
Die Kanonen von Navarone
? Oder vielleicht
Rambo
?« Ich tue, als würde ich nachdenken. »Hey! Hast du in
Rambo
mitgespielt?«
»Hör zu, kleiner Mann …«, zischelt Sergeant Rick mit vor Wut heiserer Stimme.
»Jetzt weiß ich es!«, schneide ich ihm das Wort ab. »Es war
Die Brücke am Kwai
. Du bist unter der Brücke durchgeschwommen, vollbepackt mit Dynamit, richtig?«
»Du miese Ratte!«, faucht Rick, und seine Fangzähne klackern gegen die Plastikwand, wo sie ein paar Schlieren tödliches Gift hinterlassen. Den Impuls, mich anzuspringen und umzulegen, kann der Nattern-Plattschwanz beim besten Willen nicht unterdrücken. Am Ende sind wir eben nur die Summe unserer Instinkte, sagt Rufus immer. Und noch etwas hab ich von meinem Bruder gelernt: »Sorry, Rick, aber ich bin keine Ratte. Ratten gehören zu den Mäuseartigen. Familientechnisch haben wir Erdmännchen also überhaupt nichts mit denen zu tun …«
»Weißt du eigentlich, wen du vor dir hast?«, keucht Rick. Der Blick aus seinen Stecknadelaugen will mich durchbohren wie ein tödlicher Laserstrahl.
»Einen angeberischen Macho-Lurch ohne Beine?«
»Alles okay bei euch?«, mischt nun Phil sich ein.
»Ich bin ein Navy Seal, du gottverdammter Hurensohn! Ich hab den Silver Star bekommen! Und der Präsident persönlich wollte mir die ›Medal of Honor‹ umhängen!«
»Was lief schief?«, frage ich. »Ist sie dir ständig runtergerutscht? Ich meine: Wer einen Hals hat, ist klar im Vorteil, wenn es um Ehrenmedaillen geht.«
»Ray? Ich rede mit dir«, setzt Phil nach.
»Alles okay«, beschwichtige ich. »Sergeant Pepper ist nur ein bisschen aufgeregt, weil er schon lange nicht mehr in der Wildnis war. Das macht so eine eher häusliche Schlange wie ihn nervös, musst du wissen.«
Phil nickt. »Aha.«
»Ich geb dir gleich häuslich«, zischt Sergeant Rick gefährlich.
Im gleichen Moment lenkt Phil den Wagen in einen unbefestigten Feldweg, und eine gewaltige Bodenwelle erschüttert die Karosserie. Die Plastikkiste mit dem darin befindlichen Nattern-Plattschwanz hüpft in die Höhe, wobei sich der Deckel löst und abspringt. Was noch viel schlimmer ist: Auch Sergeant Rick wird in die Luft geschleudert. Mit vor Schreck weitaufgerissenem Maul verfolge ich, wie direkt vor meinen Augen für Sekundenbruchteile eine Giftnatter in der Luft schwebt. Erinnert mich an die Zeitlupenaufnahmen aus dem Film
Face/Off
, den Rufus im Rahmen des Schwerpunktes »Hongkong-Kino« gezeigt hat.
Leider ist das hier kein Film, sondern die Realität. Und zu meinem Unglück tut Phil nun das Falsche. Er tritt abrupt auf die Bremse.
Mit Schwung wird Sergeant Rick gegen die Kopfstütze meines Sitzes geschleudert, und es dauert wieder nur Bruchteile von Sekunden, bis sich der Körper der
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