Dunkel wie der Tod
inmitten des Schweigens auf eine dramatische Enthüllung. Nell kannte diesen Trick und hielt den Mund.
âIch kann mich erinnern, dass Mrs. Hewitt einmal einen Bruder erwähnt hatteâ, meinte Mrs. Mott schlieÃlich. âOder hatte ich mich da verhört?â
Nell atmete unmerklich auf. âSie haben sich nicht verhört. Ich habe einen Bruder, James. Jamie. Aber ich habe ihn seit Jahren nicht gesehen. Was lässt Sie glauben, die Besucher seien mit mir verwandt? Es gibt sehr viele Iren in Boston.â
âAllerdings.â Mrs. Mott rümpfte die Nase, als rieche sie etwas sehr Unangenehmes. âAber die wenigsten sind so dreist, bei einem Haus wie diesem an die Vordertür zu klopfen, statt zur Hintertür zu kommen. Und noch weniger schaffen es, dass man ihnen sogar Tee im Roten Salon serviert.â Schon im Gehen setzte sie hinzu: âTrödeln Sie nicht.â
âWas heiÃt vorzeigbar?â, fragte Gracie, nachdem die Haushälterin verschwunden war. âIst das so was wie zeigen?â
âSo ähnlichâ, erwiderte Nell. âSie hat gemeint, dass du ein hübsches Kleid anziehen sollst. Aber deine Schürze ist so schön, und Nana freut sich immer, dich damit zu sehen. Deshalb bleibst du am besten so, wie du bist.â Es war Violas Idee gewesen, dass Gracie sie âNanaâ nennen solle â in der Ãffentlichkeit hätten sich gewiss zu viele Augenbrauen argwöhnisch gehoben, wenn ein so kleines Kind eine Dame fortgeschrittenen Alters âMamaâ nannte.
Der Vorschlag schien Gracie zu gefallen, denn sie sprang sofort auf und lieà sich von Nell die Haare ordentlich flechten. âWeià Mrs. Mott nicht, wie ich heiÃe?â, fragte sie weiter.
âDoch.â Nell strich einige störrische Strähnen glatt.
âWarum nennt sie mich dann immer âdas Kindâ?â
Aus demselben Grund, weswegen sie Nell immer âdie Sweeneyâ nannte und Mrs. Hewitts Krankenschwester Gabrielle Bouchard âdie Negerinâ. Einen Menschen nicht beim Namen zu nennen, sprach ihm zugleich auch seine Würde ab. âSie ist schon altâ, erklärte Nell Gracie und band ihr die blaue Schleife wieder ins Haar. âAlte Leute vergessen viel.â
âDu bist auch alt und vergisst aber nichts.â
âIch bin sechsundzwanzig. Mrs. Mott ist ⦠mmh â¦â Doppelt so alt? Dreimal so alt? â⦠viel älter.â
âNein! Nein!â, erhob Gracie heftig Einspruch, als Nell ihren Zylinder absetzen wollte. âWir sind noch nicht fertig.â
âButterblümchen, Nana wartet unten auf uns â¦â
âNur noch bis zu meinem Satzâ, bettelte Gracie und setzte sich an den Tisch.
âAlso gut. Wo waren wir â¦â Nell rückte sich den albernen Hut zurecht, setzte sich wieder und begann zu singen. âKommst in einem hohen Bogen wie ein Teetablett geflogen. Husch, husch â¦â
Vom Stuhl neben sich nahm Gracie die Haselmaus, gespielt von dem mausförmigen schmiedeeisernen Türstopper, und bewegte sie sachte hin und her. Mit schläfriger Mausestimme säuselte sie: âHusch, husch, husch, husch â¦â
âTja, und ich war noch kaum mit der ersten Strophe fertigâ, fuhr Nell fort, âda brüllte die Königin schon: âEr schlägt ja nur die Zeit tot! Runter mit seinem Kopf!ââ
Und nun endlich kam Gracies Lieblingsstelle, vorgetragen mit jener blasierten Unerschütterlichkeit, die einer ehrenwerten Dame aus Bostons oberster Schicht würdig war: âWie schrecklich grausam!â, rief sie aus.
Violas privater Salon im Hause der Hewitts â einer imposanten Stadtresidenz, gelegen an jenem als âColonnade Rowâ bekannten Teil der Tremont Street, die an den Boston Common grenzte â war ein exotisch anmutender Rückzugsort mit Antiquitäten, seidenen Stoffen und Behängen in allen erdenklichen Rottönen von Karmin und Magenta bis zu dunklem Zinnober. Die südliche Wand wurde fast gänzlich von einem japanischen Wandschirm aus dem siebzehnten Jahrhundert eingenommen, der einen schwarzen Greifvogel im Schnee zeigte, darüber einen rot unterlegten Himmel aus Blattgold. Davor saà Viola Lindleigh Hewitt auf einem ebenfalls japanischen Sitzmöbel mit prächtig geschnitzten Lehnen, das Nell wegen der hölzernen Löwenköpfe darauf nur den âLöwensesselâ nannte und
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