Dunkel wie der Tod
die Tür gesetzt und gesagt, wir bräuchten nicht wiederzukommen.â
âWie schrecklich grausamâ, sagte Gracie.
Alle Blicke richteten sich auf sie.
âKomm mal her, Butterblümchenâ, meinte Nell. Gracie kletterte auf den Schoà ihrer Gouvernante, die ihr ins Ohr flüsterte: âEs ist schrecklich grausam, aber du sollst nicht dazwischenplappern, wenn Erwachsene sich unterhalten.â
âMrs. Fallon hat gehofft, wenn sie zu mir käme und von Mutter zu Mutter spräche, würde sie eher Gehör findenâ, meinte Viola.
Ganz offensichtlich war diese Hoffnung nicht enttäuscht worden.
âHaben Sie die Freunde und Bekannten Ihrer Tochter gefragt, wo sie sein könnte?â, erkundigte sich Nell.
Mrs. Fallon streichelte noch immer die Puppe und nickte. âIch hab bestimmt mit jedem in Charlestown gesprochen, oder es wenigstens versucht. Manche, also zum Beispiel die Mädchen, mit denen sie in der Fabrik arbeitet, haben mich kaum eines Blickes gewürdigt. Andere waren ganz gesprächig, wussten aber auch nicht viel. Einfach verschwunden, von einem Tag auf den andern. Samstag ist sie zur Arbeit gegangen und seitdem nicht mehr nach Hause gekommen.â
âSagten Sie nicht, sie wäre seit Sonntag verschwunden?â, fragte Nell verwundert.
Mrs. Fallon errötete. âNa ja, sie ist ⦠äh â¦â
âSie ist samstags nie nach Hause gekommenâ, sprang ihr Mann ein. âDieser Virgil hat sie von der Arbeit abgeholt, und dann sind die beiden irgendwohin hin, wo sie ⦠na ja â¦â
âIch versteheâ, meinte Nell. âAber den Tag darauf kommt sie sonst nach Hause?â
âJeden Sonntagabend um sechs Uhrâ, bestätigte Mrs. Fallon, âdenn zu der Zeit muss Virgil den Pferdewagen zu Ollie Fuller zurückbringen.â
âOllie ist ja Kohlenhändler in Charlestownâ, erklärte ihr Mann, âaber weil er am Sonntag nicht arbeitet, vermietet er sein Fuhrwerk von Samstagabend bis Sonntagabend an Virgil.â
âWo fahren sie denn hin?â, wollte Nell wissen.
Mrs. Fallon schüttelte den Kopf. âBridie mochte nicht mit mir darüber reden. Sie wusste, was ich davon hielt. Hochwürden Dunne, der Priester in der Kirche zu Unbefleckten Empfängnis, fragt uns immer, warum sie sonntags nie zur Messe kommt. Und was soll ich ihm denn da sagen?â
âIch glaub ja doch, dass der Jimmy was wissen könnteâ, meinte Mr. Fallon zu seiner Frau. âWenn du sie finden willst, fragst du am besten â¦â
âIch habe gesagt, dass ich reden würdeâ, zischte sie ihn an. âHabe ich das nicht gesagt?â
âJimmy?â, hakte Nell nach.
âDer ist nicht weiter wichtigâ, entgegnete Mrs. Fallon geschwind.
âEr ist Bridies Ehemannâ, sagte Mr. Fallon.
2. KAPITEL
Mrs. Fallon schaute ihren Mann finster an und errötete noch tiefer.
âAh jaâ, bemerkte Viola.
âDas wird ja immer seltsamererâ, sagte Gracie.
Oje. Nell und Viola sahen sich an.
âIch glaube, dass Gracie jetzt gern anderswo spielen möchteâ, meinte Viola. âVielleicht könnten wir ja Miss Parrish bitten â¦â
Miss Edna Parrish, mittlerweile über achtzig, war einst Violas Kinderfrau gewesen und dann die ihrer Söhne. Manchmal sah sie auch nach Gracie, verbrachte ihre Vormittage nun jedoch lieber mit Bibellektüre oder ihrer Näharbeit.
âNein !â Gracie schlang ihre Arme um Nells Hals. âIch will nicht zu Miss Parrish. Ich will bei Miss Sweeney bleiben!â
âIst es denn nicht langsam an der Zeit, dass Hortense ihren Mittagsschlaf macht?â, fragte Nell sie.â©âNein! Nein. Noch nichtâ, befand Gracie. Für gewöhnlich bettete sie ihre Lieblingspuppe in ihre Wiege, sobald das zweite Frühstück ins Kinderzimmer hinaufgebracht wurde.
âAber fastâ, meinte Nell und hob das kleine Mädchen von ihrem SchoÃ. âVielleicht mag Mrs. Fallon dir ja helfen, Hortense ins Bett zu bringen.â
Mrs. Fallon hielt die Puppe noch immer im Arm. Kurz zögerte sie, dann sagte sie lächelnd: âAber ja. Ich ⦠ja, gerne doch. Sehr gern.â Sie schaute so dankbar drein, dass Nell sich fast ein wenig schuldig fühlte, da sie doch nur einen Vorwand suchte, sie für eine Weile loszuwerden.
Die Aussicht auf etwas Abwechslung bei ihrer täglichen Aufgabe schien Gracie
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