Dunkelerde: Gesamtausgabe
Röchelnd sank er zu Boden.
Für Sekunden waren Barasch-Dorms Augen wieder vollkommen schwarz geworden.
Er blickte zu den am Boden liegenden Gelehrten hinab.
Wie es scheint, habe ich ihn unterschätzt!, überlegte er. Konscholl-Veris kannte offenbar ebenfalls die immense Bedeutung dieser Schriftrolle...
„Schoschnasch Tschumanscha Grofanscha...”, murmelte der Mann in der Kutte. Formelhafte Worte in der Geheimsprache der Alt-Alchimisten, aus der später die Sprache in vereinfachter Form, das heutige Valuremisch nämlich, hervor gegangen war - die Sprache, die seitdem Dunkelerde beherrschte. Trotzdem hätte niemand, der Valuremisch sprach, die Worte verstanden, weil es sich um sogenannte Schaltwörter handelte. All dieses Wissen war für fast alle Menschen von Dunkelerde genauso verloren gegangen wie das Wissen um ihre Herkunft - als Schatten. Bis auf zumindest eine Ausnahme: Der Kuttenträger!
*
Pet und seine Freundin Jule schrien im Duett - so laut und so lang, bis ihr eigenes Geschrei sie endlich in die Wirklichkeit zurück holte.
In die Wirklichkeit?
„Das - das war doch soeben... ein Mord oder was?”
„War es!”, bestätigte Pet genauso entsetzt.
„Ich - ich habe so etwas oft genug im Fernsehen gesehen und im Kino... Aber das war diesmal anders, ganz anders...”
„Es war die Wirklichkeit. Die ist immer anders als in der Fantasie!”, versuchte Pet, abgeklärter zu wirken. Es misslang kläglich. Jule sah ihn an und bemerkte, dass er an Armen und Beinen zitterte, immer noch unter dem Eindruck des gemeinsam miterlebten Verbrechens. Dabei waren sie nicht einfach nur stumme Beobachter gewesen, wie die Zuschauer bei einem Film, sondern sie hatten die Gedanken des Kuttenträgers mitbekommen, zumindest die wichtigsten. Sogar die Angst des Sterbenden war zu ihrer eigenen Angst geworden.
„Wie so ein FANTASY oder wie die Dinger heißen! Herr der Ringe halt oder so...”, meinte Jule kopfschüttelnd.
„Schlimmer als das, viel schlimmer: Die Wirklichkeit eben! Wir wissen nun, dass es diese zweite Wirklichkeit tatsächlich gibt. Wir haben sie gesehen und erlebt.”
„Dunkelerde!” Nur sehr schwer kam dieses Wort über die Lippen von Jule. „Wie das schon klingt... Und sie hat sich verändert seitdem, wie ich glaube. Allerdings arg zu ihrem Nachteil. Darf man das so sagen? Innerhalb von nur ein paar Jahrhunderten?”
„Nein, es sind inzwischen auf Dunkelerde Jahrtausende vergangen. Die Zeit läuft dort anders ab als hier. Nennen wir unsere Wirklichkeit mal die erste Wirklichkeit. Dann ist das, was auf Dunkelerde passiert, die zweite Wirklichkeit. Einst war alles parallel, gleichzeitig. Die Gedanken der Menschen blieben in der ersten Wirklichkeit, die zweite war tot - so tot, wie Schatten nur sein können. Die Katastrophe besteht darin, dass die Alt-Alchimisten diese zweite Wirklichkeit schufen, indem sie Dunkelerde mit ihrer Macht belebten. Aber dabei hat es sie hinüber gerissen. Mit anderen Worten: Sie wurden selber Bestandteile von Dunkelerde.”
„Steht das denn auch in diesem Buch drin?”
„Nein, kann es nicht, denn dieses Buch hat der alte Magnus geschaffen, bevor er Meister der alles entscheidenden Seance wurde. Also konnte er das Buch nicht ergänzen, weil es ihn danach nicht mehr gab hier auf Erden. Aber er hat seine Gedanken eingefangen in diesem Buch - bis zum Schluss. In dem Moment, wo sie abreißen, öffnet sich das Tor.”
„Das Tor?”, rief Jule alarmiert.
„Ja, ich nenne es so.”
„Hast du das denn schon gelesen?”
„Nein, natürlich nicht! Ich würde doch damit das Tor öffnen und nach Dunkelerde geraten. Würde ich das ohne dich tun, wäre ich genauso verloren wie alle Alt-Alchimisten, die es damals wagten.”
„Glaubst du wirklich, du könntest mit dem Buch dieselbe Macht erzeugen?”
„Nein, das hast du jetzt falsch verstanden, Jule: Ich kann mit diesem Buch nur ein kleines Tor öffnen, für mich selber, um hinüber zu gelangen, denn das ist meine Bestimmung.”
„Und ich bleibe hier zurück und halte die Verbindung?”
„Genauso hat der alte Magnus das vorgesehen. Deshalb ist es so enorm wichtig, dass dem Auserwählten, wie er es nennt, die Auserwählte zur Seite steht. Sie ruft ihn zurück, wenn es sich als nötig erweist. Ohne sie ist er verloren.”
„Aber was muss ich dabei tun?”
„Du wirst es rechtzeitig wissen - genauso wie ich selber Dinge weiß, dich ich weder gelesen noch sonstwie erfahren habe. Sie sind einfach da. Nenne es
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