Dunkelheit soll dich umfangen: Thriller (German Edition)
Johnny.
Sie band den Krawattenknoten fertig, fasste ihren Sohn am Kinn und küsste ihn auf die Stirn. »Du siehst auch toll aus. Und so unglaublich erwachsen.« Johnny fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Hey, du wirst doch wohl nicht meinen Kuss wegwischen«, sagte Vanessa mit gespielter Entrüstung.
Er grinste sie an. »Ich hab ihn nur reingerieben.«
Als sie die Treppe hinuntergingen, wünschte sich Vanessa, dass ihre gute Stimmung den Abend über anhalten würde. Es sollte ein fröhlicher Anlass für sie und ihren Sohn werden. Gemeinsam hatten sie ein furchtbares Unglück überstanden, und indem sie sich von ein paar von Jims Bildern trennte, hoffte Vanessa, dass sie sich endlich ganz von ihm befreien konnte.
Er beobachtete, wie sie festlich gekleidet das Haus verließen und ins Auto stiegen. Heute Abend verkauften sie seine Bilder. Erst hatte sie ihn zerstört, jetzt schlug sie Kapital aus seinem Talent.
Aber sie würden büßen. Einer nach dem anderen. Alle, die ihn ausgenutzt hatten und nicht für ihn da gewesen waren. Er würde sie alle zerstören, nur nicht den Jungen. Der Junge war ihm so ähnlich. Er würde sie alle töten, um den Jungen und sein Talent zu retten.
Er zupfte an der eingerissenen Nagelhaut seines Daumens, und der Schmerz half ihm, sich zu konzentrieren, die Gedanken zu bündeln, die ihm mit atemberaubender Geschwindigkeit durch den Kopf schossen.
Er hatte gedacht, er würde damit zurechtkommen, könnte die Dinge irgendwann hinter sich lassen. Aber es gelang ihm nicht. Es gab so viele, die etwas hätten unternehmen können, jedoch nichts getan hatten. Die den Lauf der Ereignisse hätten beeinflussen können, sich aber nicht die Mühe gemacht hatten.
Er starrte auf das Nagelbett seines Daumens, aus dem ein Tropfen Blut quoll. Rot war seine Lieblingsfarbe gewesen. Rot, die Farbe der Leidenschaft, die Farbe des Blutes.
Er würde sie alle rot malen.
2
Andre’s Gallery befand sich im Country Club Plaza von Kansas City, einer exklusiven Wohn-und Geschäftsanlage. Die atemberaubende Architektur und die malerischen Brunnen machten das Plaza zu einem Anziehungspunkt für Einheimische und Touristen gleichermaßen.
Von außen sah die Galerie mit dem kleinen Schild über dem Eingang wie ein einfaches Ladenlokal aus. Doch das war pures Understatement, denn innen erwartete den Besucher eine Welt voller Kontraste, Farben und Effekte.
Andres Assistentin Carrie Sinclair begrüßte Vanessa und Johnny an der Tür. »Kommen Sie doch bitte herein«, sagte sie und schloss hinter ihnen wieder ab. »Offiziell machen wir erst um acht auf. Andre erwartet Sie hinten in seinem Büro.«
Als Vanessa und Johnny den Ausstellungsraum durchquerten, sahen sie sich umgeben von Jims Bildern, die, an weiße Wände gehängt, vorteilhaft beleuchtet waren.
Vanessa hatte erwartet, beim Anblick der Gemälde irgendeine emotionale Reaktion zu verspüren, Trauer, vielleicht sogar Wut, aber zu ihrer Überraschung empfand sie nichts dergleichen. Es fühlte sich einfach nur richtig an, die Bilder jetzt freizugeben.
In dem Moment wurde ihr klar, wie sehr Jim für sie schon der Vergangenheit angehörte und wie bereit sie war, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen, was auch immer es für sie bereithielt.
»Vanessa!« Andre kam ihr an der Bürotür entgegen, ergriff ihre Hände und drückte sie. »Sie sehen umwerfend aus!« Dann ließ er sie wieder los und zerzauste Johnny das Haar. »Mein Gott, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe, bist du ja schon wieder einen halben Meter gewachsen.«
Johnny grinste den großen, kahlköpfigen Mann an. »Irgendwann werde ich hier meine Bilder ausstellen.«
»Es wäre mir eine große Ehre«, sagte Andre lächelnd und drehte sich dann wieder zu Vanessa um. »Hier läuft alles so reibungslos, dass es fast schon unheimlich ist. Die Leute vom Catering-Service sind schon da, und wie es aussieht, haben sie nichts vergessen.«
Er deutete in Richtung Ausstellungsraum. »Was halten Sie von den weißen Wänden? Ich hatte überlegt, einen anderen Ton zu wählen, aber die Farben von Jims Bildern haben eine solche Sprengkraft, dass ich fand, der Hintergrund sollte nicht in Konkurrenz dazu treten.«
»Das war genau die richtige Entscheidung, Andre.« Vanessas Blick schweifte über die Gemälde, und sie erlaubte sich, einen Moment lang über den Mann nachzudenken, der sie geschaffen hatte.
Genie am Rande des Wahnsinns, so hatten die Kritiker über Jims Werk geurteilt, und das galt auch
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