Dunkelziffer
dieser Mensch solche Kunst zu schaffen in der Lage war, und er glaubte tatsächlich, es zu verstehen. Er verstand in vollstem Ernst. Und es war fantastisch, schön, erschreckend, wunderbar, widerwärtig, und er glaubte plötzlich, dass alles Menschliche, vom Dunkelsten bis zum Hellsten, vom Schwersten bis zum Leichtesten, vom Tragischsten bis zum Allerlustigsten in dieser Stimmung, die sie umfing, aufgehoben war.
Er schüttelte den Kopf.
Und sie sah plötzlich traurig aus. Als wäre sie zu einer Einsicht gekommen. Sein Instinkt sagte ihm, zu ihr zu treten und sie zu umarmen, aber das ging ja nicht.
»Wollen wir weitergehen?«, sagte sie.
»Wohin denn?«
»Auf den Dachboden«, sagte Christine Clöfwenhielm lächelnd.
Paul Hjelm musste lachen. »Ja, natürlich.« Sie gingen ins Treppenhaus und nahmen den Aufzug. Als sie dicht beieinander in dem kleinen Aufzug standen, hatte er die Vision, dass sie zwei ihrer Skulpturen waren, zwei dieser zusammenhängenden, aneinandergepressten Wesen, die sich ans Leben klammerten, indem sie sich aneinanderklammerten.
»Komm mir nicht zu nahe«, sagte sie.
»Warum nicht?«, erlaubte er sich zu sagen.
»Weil ich völlig verschmiert bin und du einen sehr feinen Anzug anhast. Armani?«
»Ja«, sagte er und hätte nichts lieber getan als seinen Armani verschmiert.
Der Aufzug hielt. Christine Clöfwenhielm öffnete ihn und ging zu einer massiven Stahltür, schloss sie auf und ließ ihn eintreten. Sie ging voraus zu einem unerwartet großen Speicherraum, der von der erwähnten Rüstung bewacht wurde. Sie sah ziemlich altersschwach aus.
»Die acht großen Kartons dort drüben enthalten die Briefe«, sagte Christine und zeigte in das dunkle Innere.
Er ging hinein und tastete sich im Dunkeln vor. »Diese hier?«, sagte er und strich mit den Fingern über etwas Kartonähnliches.
Seine Hände glitten weiter durchs Dunkel. Sie ertasteten einen neuen Karton. Er wandte sich zur Speichertür um.
Christine Clöfwenhielm war verschwunden.
Paul Hjelm ließ seine Hand noch ein Stück weitertasten, in die dunkelste Ecke. Ein weiterer Karton löste den vorigen ab. Er tat noch ein paar Schritte ins Dunkel.
Doch was auf den dritten Karton folgte, war kein Karton.
Auf einmal wurde es unglaublich kalt in Paul Hjelms erhitzter Welt.
Es war eine Hand, eine warme menschliche Hand.
Und aus dem Dunkel kamen ihm Olof Lindblads Worte entgegen: >Sie ermitteln also auf eigene Faust?<«
Aber die Hand, die sich jetzt erhob, war nicht die Olof Lindblads.
Es war eine Hand mit vier Fingern.
Und es war alles zu spät.
25
Das Erste, was Steffe für das Geld kaufte, war ein Computer. Er fand nicht einmal die Zeit, die Tatsache zu verfluchen, dass er seinen alten gewohnten Rechner zu Hause gelassen hatte. Es kam ihm ganz natürlich vor.
Das hätte nicht so sein dürfen. Es hätte jetzt vorbei sein sollen. Er hatte das Geld bekommen - mehr als er je in seinem ganzen Leben gesehen hatte - und hätte im Triumph nach Hause zu Marja zurückkehren sollen. Jetzt hätte er mit dem Geld vor den verblüfften Gesichtern der Liebhaber herumwedeln sollen. Warum tat er es nicht?
Er saß in dem muffigen Hotelzimmer in dem muffigen Vorort, und während er versuchte, den Internetanschluss des neu gekauften Laptops in Gang zu bringen, stellte er sich diese Frage.
Warum war er nicht nach Hause zu Marja zurückgekehrt?
Hatte es mit dem zu tun, was die Frau gesagt hatte? Dass er an einer Grenze balancierte? Nein, nicht an einer Grenze. Was hatte sie gesagt? Wenn er sich richtig anstrengte, konnte er sich jedes Wort, das aus ihrem Mund gekommen war, in Erinnerung rufen. Rand war das Wort. »Sie balancieren am Rand.«
Und dann kam der Rest wie von selbst: »Wir können diese Lebenskraft in uns wiederfinden. Manchmal tun wir es sehr deutlich, wenn wir uns verlieben, wenn wir Kinder bekommen, aber meistens ist sie wirr und gefesselt und schwer zu erkennen. Gelingt es uns aber, die Kraft wiederzufinden und in reiner Form zu kultivieren - wir können sie die sexuelle Energie nennen -, dann können wir sie genau betrachten und entscheiden, ob sie positiv oder negativ ist. Strebt sie zum Leben oder zum Tod? Das ist der Rand, an dem Sie balancieren, Stefan Willner, und deshalb interessieren Sie uns.«
Sie interessierten sich für ihn. Für ihn, den kleinen Stefan Willner. Das war so merkwürdig, dass er hören musste, was sie eigentlich wollten.
Aber war das wirklich der Grund dafür, dass er, anstatt zu Marja nach Hause zu
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