Dunkelziffer
Christine Clöfwenhielm auf dem Weg in die Küche nach sich zog.
Es war eine große, offene Landküche mit reichlich Arbeitsflächen. Hjelm setzte sich in die breite Fensternische und beobachtete ihr energisches Händereiben.
»So«, sagte sie schließlich, trocknete sich die Hände ab und lächelte ihn an. »Jetzt wollen wir mal sehen. Du möchtest also das Clöfwenhielm'sche Erbgut ansehen, war es das?«
»Willst du gar nicht wissen, warum?«, sagte Paul Hjelm und erwiderte ihr Lächeln.
»Du sagtest doch, es wäre geheim«, sagte sie mit ihrer auffallend schönen Stimme.
Doch Hjelm war verhext. Die Frage, ob er im Voraus beschlossen hatte, sich verhexen zu lassen, kam ihm zu keinem Zeitpunkt in den Sinn.
»Geheim und geheim«, sagte er. »Es ist eine seltsame Geschichte. Ich hoffe, in dem Erbgut auf eine kleine Spur zu stoßen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass ich dir später mehr erzählen kann. Du scheinst auf jeden Fall einen sehr spannenden Vorfahr gehabt zu haben.«
»Andreas?«, sagte Christine Clöfwenhielm. »Ja, als du von ihm erzählt hast, habe ich einmal nachgesehen, was ich über ihn habe. Er scheint ein ziemlich langweiliges Beamtendasein im königlichen Münzwerk geführt zu haben. Nach einiger Zeit wechselte er in die neu eingerichtete Nummernlotterie, wo der Dichter Carl Michael Bellman später als Sekretär auftauchte. Das scheint das Spannendste in seinem Leben zu sein - dass er in seinen alten Tagen einige Jahre lang Bellmans Vorgesetzter war.«
»Da kann man mal sehen«, sagte Paul Hjelm. »Das wusste ich nicht. Bellman selbst war ja wohl auch mit diesem Ordenswesen verquickt. Was ist zum Beispiel der Bacchi Orden ? «
»Bacchi Orden ist ein Werk, glaube ich«, sagte Christine Clöfwenhielm. »Eine Parodie auf das Ordenswesen. Aber er war Mitglied von Par Bricole, das wohl eher den harmloseren Erscheinungen im schwedischen Ordenswesen zuzurechnen ist. Ihr Ziel ist die Bewahrung des schwedischen Kulturerbes, Gesang, Musik, Theater und die Kunst der Rede. Nicht besonders geheimnisvoll.«
»Dann erlaube ich mir, noch einmal zu fragen, ob du von Fac ut vivas gehört hast? Andreas war der Gründer und viele Jahre Großmeister.«
»Und ich muss auch jetzt antworten, dass ich nicht die blasseste Ahnung habe. Wenn es so war, hat er sein wirkliches Leben hinter einer grauen Fassade verborgen. Was an und für sich in der Geschichte der Menschheit keine Seltenheit ist...«
»Das mag so sein«, sagte Paul Hjelm zögernd. »Und jetzt?«, sagte Christine Clöfwenhielm und schlug die Hände zusammen. »Ist es an der Zeit, das Allerheiligste zu betreten? Leider sind die Briefe auf dem Dachboden... zusammen mit dieser vermaledeiten Rüstung... Wir können auf dem Weg in mein Atelier schauen, falls es dich interessiert.«
»Sehr gern«, sagte Paul Hjelm. »Du bist Bildhauerin?«
»Ja«, sagte Christine und begann durch die Wohnung zu wandern. »Ich bin Bildhauerin. Ich mache Skulpturen. Den Rest muss man eben sehen.«
Sie waren bei einer lehmbefleckten Tür angekommen, die Christine Clöfwenhielm mit gespielter Ehrfurcht öffnete. Sie ging ganz, ganz langsam auf.
Paul Hjelm befand sich in einem Paralleluniversum. Die Skulpturen waren menschlich und auch wieder nicht. Es waren moderne, perfekt abgebildete Gegenwartsmenschen, aber gleichzeitig hatten sie etwas zutiefst Mystisches. Es lag etwas Tiefes und Ernstes über der festlichen Erotik, die Gestalt mit Gestalt, Charakter mit Charakter verband. Sie füllten einander aus, sie begehrten einander, sie vollendeten sich ineinander. Es war eine Kavalkade des Eros, eine Manifestation der menschlichsten aller menschlichen Urkräfte.
Und sie traf Paul Hjelm mit einer Kraft, die er der Kunst schon nicht mehr zugetraut hatte. Es war die eigentümlichste und selbstverständlichste Kunst, die er seit Langem gesehen hatte.
Er ging an den eigenartig verschlungenen Skulpturen vorbei. Er ließ die Hand über ihre wild begehrenden und zugleich friedlichen Körper gleiten. Er konnte nicht anders, als sie zu berühren.
»Ja«, sagte Christine Clöfwenhielm, »berühr sie. Es ist meine Hoffnung, dass man nicht anders kann, als sie zu berühren.«
Hjelm hielt inne. Er blickte zu den großen Skulpturen auf und sagte atemlos: »Fantastisch.«
»Danke«, sagte Christine und schien beinahe zu erröten.
Eine Weile standen sie im Atelier, und die immer dichter werdende Atmosphäre schien sich um sie zu schließen. Er sah sie an, er versuchte zu begreifen, wie
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