Dunkelziffer
wir damit leben?«
»Hier ist etwas im Gange«, sagte Chavez. »Wir haben zwar noch ein paar lose Fäden, aber wir wissen, dass die Figur gejagt wird. Irgendeine Art von Rächern ist kurz davor, ihm die Kehle durchzuschneiden. Normalerweise lebt er sehr zurückgezogen. Er hat ein großes IT-Unternehmen verkauft, das er während des großen Booms gestartet hat, und sitzt jetzt allein und reich und isoliert da und lenkt diesen Pädophilenring mit eiserner Hand. Was macht er dann also jetzt? Warum fährt er nach Sätra? Er trifft da jemanden, und bestimmt keinen aus seinen alten Unternehmerkreisen. Dies hier ist eine zwielichtige Gegend. Denk mal nach. Er weiß, dass die Schlinge um seinen Hals langsam zugezogen wird. Er ist ein rücksichtsloser Pädophiler und außerdem vermutlich ein hartgesottener Exunternehmer. Geht er nicht zum Gegenangriff über?«
»Ziehst du nicht gerade ziemlich weitreichende Schlüsse?«, sagte Jon Anderson und blickte sich in der tristen Vorortgegend um. »Es kann doch um alles Mögliche gehen. Vielleicht besucht er seine Mutter.«
»Dann übergeben wir diese Sache jetzt Ragnar Hellbergs Abteilung für Kinderpornografie«, sagte Chavez und zog sein Handy heraus.
Als er die Nummer einzutippen begann, legte Jon Anderson die Hand auf seine. »Warte«, sagte er.
»Warum denn?«, sagte Chavez mit Unschuldsmiene.
»Ich wünsche mir auch ein bisschen richtige altmodische Polizeiarbeit«, sagte Anderson.
Im Handy antwortete Fräulein Uhrzeit. Sie sagte: »Sechzehnter Juni, sechzehn Uhr, fünf Minuten und zwanzig Sekunden. Piep.«
Jon Anderson musste lachen, und sie setzten sich in dem stinkenden Wagen zurecht.
Als richtig altmodische Polizeispäher.
31
Kerstin Holm hatte ihren Zweitschlüssel zu Paul Hjelms Wohnung in der Slipgata auf Kniv-Söder nie benutzt. Es war ein seltsames Gefühl, die mythenumsponnene Junggesellenwohnung in Gesellschaft von Bengt Äkesson aufzusuchen.
»Tot liegt er jedenfalls nicht da«, sagte sie nach einem schnellen Blick durch die kleine Wohnung.
»Jedenfalls nicht hier«, sagte Bengt Äkesson und zog den Duschvorhang in dem kleinen, aber gepflegten Bad zur Seite.
»Dagegen glaube ich, auf dem Fußboden hier und da ein paar abgestorbene Lebensspuren ahnen zu können«, sagte Kerstin Holm, ging ans Fenster und zog die Jalousien hoch, sodass das Nachmittagslicht ins Zimmer drang.
Die Wohnung machte unbestreitbar einen etwas kümmerlichen Eindruck. Aber auch einen unbekümmerten. Paul Hjelm war es tatsächlich gelungen, sie ganz ansprechend erscheinen zu lassen, wenn auch in einer einsamen, vielleicht ein wenig resignierten Weise.
Er brauchte neue Lebenskraft.
Plötzlich, für einen winzigen Moment, stand Kerstin Holm eine große, schöne Wohnung vor Augen, die Paul und sie sich gemeinsam eingerichtet hatten. Dort wohnten sie zusammen mit Kerstins Sohn Anders, und hin und wieder kamen Pauls erwachsener Sohn Danne und seine erwachsene Tochter Tova zu Besuch. Es war eine Wohnung, in der die Liebe gedieh.
Die Vision verschwand. Es war sehr merkwürdig. Sie betrachtete Bengt Äkesson, der seinen jeansbekleideten Körper an einen Türpfosten lehnte.
Und sie dachte: Warst das wirklich nicht du, Bengt, den ich gerade gesehen habe? Waren es nicht unsere gleichaltrigen Kinder, die zusammen mit uns in einer Wohnung leben, in der die Liebe gedeiht?
»Der Computer«, sagte Bengt.
Er lag auf dem Bett, mit angeschlossenem Breitbandkabel. Sie hoben ihn auf, setzten sich an Paul Hjelms anspruchslosen Couchtisch und versanken im Sofa. Es war wirklich bequem, das musste Kerstin zugeben.
Der Computer war angeschaltet. Er begann sofort zu arbeiten, als sie den Deckel hochklappten. Die Google-Homepage als Startseite. Und gespeicherte Suchworte, wenn man die Liste anklickte.
»Gehen wir hier nicht zu weit?«, fragte Kerstin. »Können wir das rechtfertigen?«
»Du meinst, falls er Pornos auf dem Computer hat?«
»Nein, ich meine, ob wir das Recht dazu haben.«
»Er ist den ganzen Tag verschwunden. Und nicht über sein Handy erreichbar.«
»Vielleicht liegt es hier. Er hat es vielleicht zu Hause vergessen.«
Und dann machte sie einen Testanruf. Nirgends in der kleinen Wohnung klingelte es.
»Komm schon«, sagte Äkesson. »Du bist genauso besorgt um ihn wie ich. Vielleicht noch mehr.«
»Das > vielleicht noch mehr< kommentiere ich später«, murmelte Kerstin Holm und klickte auf Hjelms Google-Suchwortliste.
Sie blätterte die Suchworte bis zu »Penisknochen« durch
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