Dunkelziffer
nach Hause ging.
Kerstin Holm dagegen versuchte zwischen den neuen Häusern von Hammarby Sjöstad auf der Südseite des Hammarby-Kanals voranzukommen, genau südlich von Södermalm, wo in nur wenigen Jahren ein neuer Stadtteil entstanden war. Es war nicht ganz leicht, sich zwischen den schnurgeraden Hausreihen zurechtzufinden.
Es war ein bisschen peinlich, sich selbst einzugestehen, dass sie schon einmal in Hammarby Sjöstad gewesen war und jetzt genauso desorientiert war wie damals.
Die Zweizimmerwohnung in der Regeringsgata war ein bisschen eng geworden, seit ihr zehnjähriger Sohn Anders immer häufiger Spielkameraden mit nach Hause schleppte. Und die meisten freien Wohnungen in Stockholm gab es eben in Hammarby Sjöstad. Sie hatte sich eine Dreizimmerwohnung angesehen, für die die Kapitaleinlage zwar relativ gering war, was aber durch die monatlichen Kosten allemal kompensiert wurde. Aus dem versprochenen Bauboom in Stockholm war nicht viel geworden, und das Resultat war eine seltsame Mischung von Wohn- und Mietrechten: teils monatliche Kosten, die stark an eine ganz normale Miete erinnerten, teils eine Kapitaleinlage, die hohe Bankdarlehen erforderte. Das Schlimmste aus beiden Welten.
Schließlich war sie am Ziel. Die Babordsgata, ein Stück zum Kanal hinunter. Seeblick, wie es in der Anzeige hieß. Was ungefähr bedeutete: Steht man auf der obersten Stufe einer Leiter und reckt sich über das Balkongeländer, kann man bei entsprechendem Wetter und mithilfe eines Periskops die Spiegelung von Wasser im Fenster eines Nachbarn erahnen.
Kerstin Holm parkte das Auto direkt vor der Haustür und hoffte, dass die Politessen Sommerferien machten. Sie tippte einen Türcode ein. Auf einer Tafel im Flur fand sie den Namen Flodberg und nahm die Treppe mit leichtem Keuchen, was sie daran erinnerte, wie sträflich sie das Joggen vernachlässigt hatte. Dann klingelte sie.
Während sie wartete, dachte sie nach. Die Maschinerie war extrem schnell in Gang gekommen. Zunächst hatte die Polizei von Sollefteä unerwartet schnell auf die Anwesenheit von Pädophilen reagiert, weil sie erst kürzlich einen ähnlichen Fall gehabt hatte. Es war gut ausgegangen, sollte sich aber nicht wiederholen. Dann hatte Waldemar Mörner mit unerwartetem Fingerspitzengefühl reagiert. Und zuletzt hatte sie selbst, Kerstin Holm, sofort einen unwiderruflichen Entschluss gefasst: Der Fall war alarmierend genug, um alle Kräfte darauf anzusetzen.
Außerdem war es eine allgemein bekannte Tatsache, dass die ersten Stunden oft entscheidend waren.
Die Frau, die schließlich die Tür öffnete, war klein und hatte verweinte Augen. Sie schien in den Vierzigern zu sein und machte einen erschöpften Eindruck. Vielleicht hatte sie zwei Jobs, um als alleinstehende Mutter das Geld für die Monatsmiete und das Darlehen zusammenzubekommen. Was mehr war, als Kerstin Holm je würde aufbringen können. Und sie war immerhin Kriminalkommissarin. Emily Flodbergs Mutter war den Angaben zufolge Telefonistin bei Telia.
»Birgitta Flodberg?«, fragte Kerstin Holm vorsichtig. »Ich bin Kerstin Holm und komme von der Polizei. Haben Sie ein paar Minuten Zeit?«
Birgitta Flodberg musterte die etwas größere und etwas frischere Frau, öffnete die Tür und verschwand in der Wohnung. Kerstin Holm folgte ihr.
Sie fand sie in einem hellen Wohnzimmer wieder, auf einer roten Sofagruppe aus Leder sitzend. Ihr Blick verlor sich im Blauen.
Der Himmel über Stockholm war an diesem Montag im Juni tatsächlich blau. Viel mehr würde der Sommer nicht zu bieten haben. Es sollte der schlechteste Sommer in Schweden seit achtundsiebzig Jahren werden. Aber das wussten weder Birgitta Flodberg noch Kerstin Holm. Bis Mittsommer war noch eine gute Woche Zeit.
Holm setzte sich Flodberg gegenüber und begann. »Es tut mir wirklich leid, was passiert ist«, sagte sie und merkte selbst, wie unpassend das klang. Aber gab es Worte, die irgendeinen Trost enthielten? In solchen Situationen zeigen sich die Worte von ihrer schlimmsten Seite.
»Sie ist gerade erst dreieinhalb Stunden verschwunden«, sagte Birgitta Flodberg mit heller, spröder Stimme. »Es muss nicht unbedingt etwas passiert sein. Sie ist ziemlich selbstständig. Sie ist auch früher mal weggeblieben.«
»Wie - weggeblieben?«, fragte Kerstin Holm.
»Auf dem Schulweg zum Beispiel«, sagte Birgitta Flodberg. »Oder wenn sie nur schnell Milch kaufen wollte. So ist sie, ein bisschen verträumt. Vergisst Zeit und Raum. Grübelt über
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