Dunkelziffer
Schutzmechanismus.
Da war etwas an dieser Frau, was Kerstin Holm wiedererkannte. Es war deutlich. Und gleichzeitig ganz unerreichbar. Wiedererkannte? Wieso wiedererkannte? Von wo?
Von sich selbst?
»Das glaube ich Ihnen«, sagte Birgitta Flodberg, und auch diesen Tonfall erkannte Kerstin wieder. Sie war ihm früher begegnet. Bei diversen Verhören.
»Gut. Wir versuchen es noch einmal. Hat Emily Freundinnen?«
»Mittlerweile nicht mehr viele. Als sie in die Siebte kam, wurden mehrere Klassen zusammengelegt, und ihre besten Freundinnen landeten in einer Parallelklasse. Anfangs fand sie neue Freundinnen. Erst Felicia, dann Julia, aber irgendwie gab es Streit.«
»Wissen Sie, worum es dabei ging?«
»Ich habe versucht, es herauszufinden, aber damals wendete sie sich schon ab. Das begann so richtig um diese Zeit.« »Ein Freund?«
»Emily? Mein Gott, nein. Sie tut, als existierten Jungs gar nicht. Sie findet sie kindisch.«
»Hat sie irgendwelche Hobbys? Aktivitäten?« »Meistens sitzt sie vorm Computer.« »Computer? Internet?«
»Ja. Und Spiele. Auch Videospiele. Playstation. Ich sage immer, die Augen werden viereckig, dann wird sie natürlich wütend.«
»Sonst nichts? Reiten, Schwimmen, Briefmarkensammeln?« »Nein. Aber sie ist gut in Form, muss ich sagen, wenn man bedenkt, wie wenig sie sich bewegt. Sie sieht gut aus.«
»Apropos, ich brauche Fotos, so viele wie möglich«, sagte Kerstin Holm und stand auf. »Könnten Sie welche heraussuchen, während ich mich in ihrem Zimmer umsehe?«
»In ihrem Zimmer?«, entfuhr es Birgitta Flodberg. »Mein Gott, sie würde mir den Kopf abreißen. Ich bin seit einem halben Jahr nicht mehr da drin gewesen.«
»Es wäre prima, wenn ich mich umsehen könnte«, sagte Kerstin Holm und fragte sich, wie lange sie noch gute Miene machen würde. »Sie wird nichts merken, ich verspreche es. Aber ich muss einen Anknüpfungspunkt finden. Ich habe nichts. Geben Sie mir etwas.«
Birgitta Flodberg sah von ihrem nagelneuen Ledersofa zu ihr auf und sagte, ohne eine Miene zu verziehen: »Geradeaus nach rechts.«
Kerstin Holm ging durch den langen Flur der Dreizimmer-Neubauwohnung. Dabei versuchte sie, den professionellen Gedanken >Wie kann sie sich das als Teilzeittelefonistin leisten ?< von dem privaten >Wieso kann ich es mir nicht leisten?< zu trennen.
Und was zum Teufel sollte das mit dem Verschwinden ihrer Tochter zu tun haben?
Sie kam in ein Zimmer, in dem die Zeitalter wie die Jahresringe eines Baumstamms zu erkennen waren. Wie in einem Museum aufbewahrt; Puppen, Puppenwagen, ein Teddy, ein Puppenschrank. Aber die Wände waren, um einen Interessenwandel anzudeuten, hinreichend mit Pferden, schimmernden Lagunen und glatt rasierten Schwimmerkörpern bedeckt. Ganz zu schweigen von ein er Truppe verschwitzter Hip-Hop per mit deutlich sichtbaren Poritzen. Nur etwas Einzigartiges gab es in Emily Flodbergs Zimmer eigentlich nicht, etwas, das sie besonders machte. Auf den ersten Blick glich das Zimmer Tausenden Teenagerzimmern in Schweden. Was nötig war, waren ein zweiter und ein dritter Blick. Leider war die Situation nicht so, dass sie einen dritten Blick erlaubt hätte, höchstens einen zweiten, und auch den nur kurz.
Eine Telefonkonferenz mit Sara Svenhagen, die im Taxi auf dem Weg nach Arlanda war, und dem Berater Jan-Olov Hultin, der in der Sauna am See Ravalen nördlich von Stockholm saß, hatte nämlich zu dem Resultat geführt, dass Emily Flod bergs Leben vorläufig nicht völlig durchleuchtet werden sollte. Es war keine einfache Entscheidung gewesen. Zwischen diesen Kollegen, die Kerstin Holm von allen am meisten schätzte, wechselten die Argumente hin und her. Eine Weile hatte sie erwogen, zwei weitere hinzuzuziehen: ihren ehemaligen Kollegen Paul Hjelm, der in letzter Zeit allerdings ziemlich lahm wirkte mit seiner verspäteten Scheidungsdepression, und - aus eindeutig dunkleren Gründen - einen kompetenten Kommissar aus der Abteilung für Gewaltverbrechen bei der Stockholmer Kriminalpolizei namens Bengt Äkesson.
Aber die Zeit war knapp, und sie musste sich mit Svenhagen und Hultin begnügen.
»Zum dritten Mal«, sagte Sara. »Man bekommt keinen Schlag, wenn man mit dem Handy in der Sauna sitzt.«
»Bist du ganz sicher?«, fragte Hultin besorgt.
Wenn ich dich nicht besser kennen würde, dachte Kerstin, würde ich denken, du wirst allmählich senil. Dann fasste sie die Argumentation zusammen: »Finden wir Emily also schneller, wenn wir ihr Leben mit den Wurzeln
Weitere Kostenlose Bücher