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Dunkelziffer

Dunkelziffer

Titel: Dunkelziffer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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ausreißen und jeden Winkel durchleuchten?«
    »Vermutlich«, sagte Jan-Olov Hultin. »Aber ich würde trotzdem abwarten. Im Augenblick scheint es wahrscheinlicher, dass sie sich verirrt hat oder einem Pädophilen in die Hände gefallen ist. Ich würde mich zunächst auf den konkreten Ablauf der Ereignisse konzentrieren. Eine gründliche Suchaktion und Überprüfung der lokalen Pädophilen. Wenn es etwas Geheimes in ihrer Welt gibt, das sie veranlasst hat zu fliehen - einen Kerl, allgemeiner Freiheitsdrang, jemanden, der sie bedroht -, sollte die Ermittlung das in einer zweiten Welle berücksichtigen. Den Fokus erst auf das Verschwinden, dann auf das Mädchen selbst.«
    »Ich bin nicht ganz einverstanden«, sagte Sara Svenhagen. »In ihrem Computer könnte eine Mail sein, die uns weiterhilft: >Wir sehen uns Montag um eins. Hol mich mit dem Auto am Fußballplatz in Saltbacken ab, dann verschwinden wir und machen uns ein schönes Leben in St. Tropez.< Das wäre peinlich.«
    »Noch peinlicher wäre: >Ich werde dich in Ängermanland killen, du Schlampe<«, sagte Kerstin Holm.
    »Ihr habt recht«, sagte Hultin. »Sieh dir den Computer an, Kerstin, aber ohne großes Aufsehen. Tu's heimlich. Und das Handy?«
    »Ist verschwunden«, sagte Kerstin. »Wahrscheinlich hat sie es mitgenommen. Es geht nur die Mailbox ran. Vermutlich hat sie es abgeschaltet. Aber wir versuchen, eine Liste der Gespräche zu bekommen, und wir rufen weiterhin an.«
    Wir rufen weiterhin an, dachte Kerstin Holm und startete den Computer in Emily Flodbergs Mädchenzimmer. Sie sah sich um und versuchte, die Atmosphäre zu erspüren. War es etwas Spezielles, dass hier alles Spezielle fehlte? Kaum. Keine direkten Vibrationen. Sie versuchte sich zu erinnern, wie es war, vierzehn Jahre alt zu sein, was man für Geheimnisse hatte und wo man sie verbarg.
    Wer war man? War eine Vierzehnjährige heute wirklich anders als vor dreißig Jahren? Hat sie mehr gesehen, mehr gehört, mehr erlebt? Die Kluft zwischen Theorie und Praxis ist heute größer: Man weiß alles über Analsex, noch ehe der erste Kuss in Reichweite gekommen ist. Aber sehen die Geheimnisse nicht trotz allem gleich aus - umgeben von dem atemlos zitternden Auf-Leben-und-Tod-Gefühl? Man hat die Sexualität entdeckt, und obwohl das Blut jeden Monat aus einem herausläuft, ist sie etwas sehr Heimliches - nicht einmal der Mutter kann man zu erkennen geben, dass man weiß, wie ein erigierter Penis aussieht, und dass er eine eigenartige Lockung ausübt.
    Von alledem wusste Kerstin, wenn auch nur in der Theorie. Sie selbst war viel zu früh mit der Schattenseite des Eros in Berührung gekommen, durch ihren sogenannten Onkel Holger, in einer Garderobe und mit Vorliebe auf Familienfesten. Es hatte viel Zeit und Leid gekostet, darüber hinwegzukommen. Obwohl - darüber hinweg war sie wohl kaum.
    Sie versetzte sich zurück in ihr eigenes Mädchenzimmer. Die Einzelheiten traten ihr der Reihe nach vor Augen. Die standesgemäße Wohnung im Göteborger Stadtteil Tynnered. Der Vater Vorarbeiter bei der Werft, die Mutter Krankenschwester. Und keine Geschwister.
    Wie Emily Flodberg.
    Und keine Geheimnisse. Keine versteckten Nacktbilder oder erotischen Romane. Alle Geheimnisse verblassten im Schatten des allumfassenden Geheimnisses. Das nie verraten werden durfte.
    Also war das Mädchenzimmer vollgestopft mit Trostobjekten, Teddybären, Kuscheltieren. Aber ohne Besonderheit.
    War es das, was sie in diesem Zimmer sah? War es der Mangel an Eigensinn? Je mehr sie von diesem Mädchenzimmer aufnahm, diesem sorgsam isolierten Mädchenzimmer, das die Mutter - die abwesende Mutter, die nicht die geringste Ahnung hatte, wie die Klassenlehrerin ihrer Tochter hieß - seit einem halben Jahr nicht hatte betreten dürfen, je mehr Kerstin Holm also von diesem Zimmer aufnahm, desto unpersönlicher wurde es. Und trotzdem war es nicht die gleiche Unpersönlichkeit, die sie in ihrem eigenen, inzestuös verseuchten Mädchenzimmer etabliert hatte. Es war etwas anderes.
    Als ob dieses Zimmer nur ein Alibi wäre, etwas, was man haben musste, während sich das wirkliche Leben woanders abspielt.
    Kerstin Holm hielt inne und versuchte, sich von Vorurteilen und übereilt gezogenen Schlüssen frei zu machen. Dann vergegenwärtigte sie sich alles noch einmal, das sporadische >Wegbleiben<, die herbe Mutter, keine Geschwister, wenig Freundinnen, Hobbys, das unpersönliche Zimmer, das Verschwinden in Ängermanland, das fehlende Handy - und den

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