Dunkelziffer
Computer, der gerade piepste und ein Kennwort haben wollte.
Sie betrachtete den leeren Bildschirm, auf dem sich nur ein blinkender senkrechter Strich bewegte. Er forderte gleichsam einen Entschluss. Einen polizeilichen Entschluss.
Haben oder nicht haben. Nehmen oder nicht nehmen.
Während sie mit sich rang, begann sie das Zimmer zu durchsuchen. Sie tastete die Unterseite von Schubladen ab, fixierte Hohlräume verschiedenster Art, Bettpfosten, Spieldosen, Sparschweine, sie ließ die Hände über die Rückseite von Spiegeln und Pinnwänden gleiten, sie drehte alles um, was sich umdrehen ließ. Und sie fuhr mit der Hand über die Tastatur des Computers. Die Tasten waren abgewetzt, und die Leertaste war spiegelblank.
Die Dinge hatten eine neue Wendung genommen. Heimlich in Emily Flodbergs Computer zu schauen war keine Alternative mehr. Kerstin musste sich ernsthaft mit der Frage auseinandersetzen, ob schon jetzt, wo Emily kaum vier Stunden verschwunden war, der Zeitpunkt gekommen war, alle Rücksichten auf das Privatleben der Vierzehnjährigen hintanzustellen. Mit anderen Worten: War es angebracht, den Computer zu beschlagnahmen?
Die klassische Situation, in der kein Polizeihandbuch weiterhilft, dachte sie und blätterte einen Stapel gelber Post-it-Blöcke durch. Hier ging es um reine Intuition, es ging darum, auf geringer Faktenbasis die Wahrscheinlichkeit zu beurteilen, ob Emily nicht einfach nur nach Sollefteä getrampt war, um sich Schminke oder CDs zu kaufen. In dem Augenblick, als sie den untersten Block in der Hand hielt, kam sie zu einem Entschluss. Sie drehte den Block um und sah, dass die Rückseite mit einem Wort beschrieben war.
»Mistah« stand da.
Kerstin Holm betrachtete das unbekannte Wort und dann den blinkenden senkrechten Strich auf dem Bildschirm. Langsam tippte sie »Mistah« in die Passwortzeile ein.
Der Computer antwortete mit einer rot blinkenden Sicherheitswarnung: »Falsches Passwort. Sie haben noch zwei Versuche, dann wird die Festplatte gelöscht.«
Das waren klare Worte.
Sie nahm ihr Handy und wählte eine Nummer. »Jorge«, sagte sie, »kannst du reden?«
»Ich bin in der Kita«, sagte Jorge Chavez. »Du hast mich ja für unbestimmte Zeit zum alleinerziehenden Vater gemacht.«
»Ich bin in Emilys Zimmer«, sagte Kerstin Holm und hörte in unmittelbarer Nähe des Kollegen mindestens vier Zweijährige krakeelen.
»Isabel«, rief Chavez. »Lass sofort Kalles Nase los.«
»Bist du sicher, dass du reden kannst?«
»Frag mich was anderes, großer Häuptling.«
»Wenn ich versuche, in Emilys Computer zu kommen, sagt er: >Falsches Passwort. Sie haben noch zwei Versuche, dann wird die Festplatte gelöschte«
»Hmmm«, sagte Chavez. »Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder hat sie das selber reingeschrieben als Warnung an Familienmitglieder, die in alles ihre Nase stecken müssen, und dann ist es sicher nicht wahr, oder...«
»Oder was?«
»Ich habe gehört, dass es solche Programme gibt. Wir leben in einer Zeit, in der Datenklau das häufigste aller Verbrechen ist. Vielleicht abgesehen von Geschwindigkeitsüberschreitung und sexuellen Übergriffen. Die Kriminalität ist bekanntlich ein Spiegel ihrer Zeit.«
»Ganz zu schweigen von den Möglichkeiten.«
»Genau«, sagte Chavez enthusiastisch. »Lieber die eigene Festplatte zum Absturz bringen als einen anderen sehen lassen, was sie enthält. So ist unsere Zeit.«
»Ich bringe den Computer morgen früh zu den Kriminaltechnikern. Hast du Lust, ihn dir vorher anzusehen?« »Unbedingt.«
»Gut«, sagte Holm. »Bist du in einer Viertelstunde zu Hause?« »Ich richte es ein. Isabel, du sollst nicht in Sigvards Ohr beißen.«
Sie beendete das Gespräch, und für einen Moment empfand sie etwas wie Freude darüber, das Kleinkindalter ihres Sohnes nicht erlebt zu haben. Aber sofort meldete sich der große Schmerz, die ersten sieben prägenden Jahre seines Lebens tatsächlich verpasst zu haben.
Auch das war eine lange Geschichte.
In diesem Augenblick kam Birgitta Flodberg ins Zimmer. Sie sah sich ein wenig nervös um, als beträte sie heiligen Boden, und hielt Kerstin einen Stapel Fotos hin.
Emily Flodberg war zweifellos ein sehr schönes Mädchen. Sie hatte äußerlich nicht viel gemeinsam mit ihrer Mutter, aber unter der blonden Mähne hatte sie einen bestimmten Zug um das Kinn, der nicht zu verkennen war. Und sie sah deutlich älter aus als vierzehn. Der Gesichtsausdruck war meist ernst oder sogar abweisend, und es gab kein einziges
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