Dunkelziffer
Bild, auf dem sie lachte. Das Lachen, das so viel über einen Menschen aussagt.
»Danke«, sagte Kerstin Holm und sah Frau Flodberg an. »Ist Emily ein ernstes Mädchen?«
Birgitta Flodberg ließ ihren traurigen Blick auf den verschiedenen Aufnahmen ihrer Tochter ruhen und nickte kurz.
»Mittlerweile ja. Aber sie war ein sehr fröhliches Kind.«
»Ich werde Emilys Computer mitnehmen«, sagte Kerstin. »Sie kennen nicht zufällig ihr Passwort?«
»Müssen Sie den wirklich mitnehmen?«, fragte Birgitta Flodberg mit besorgter Stimme.
»Er könnte uns sagen, wo sie ist. Das Passwort?«
»Damit soll ich vermutlich ferngehalten werden«, sagte Flodberg finster. »Ich habe keine Ahnung.«
Kerstin Holm nickte, packte die Fotos und den gelben Post-it-Block in ihre Schultertasche, zog die Kabel aus dem Computer, klemmte ihn unter den Arm und sagte: »Wir lassen von uns hören, sobald wir etwas wissen. Haben Sie jemanden, der bei Ihnen bleiben kann? Es wird eine schwere Nacht...«
»Ich weiß«, sagte Birgitta Flodberg. »Nein, ich komme allein zurecht. Das bin ich gewohnt.«
Da war es wieder, das Wohlbekannte. Keine Miene, keine Geste, kein besonderes Verhalten, es war die Atmosphäre, die die besorgte Mutter umgab. Kerst in schüttelte das seltsame Dejá -vu-Gefühl ab und machte sich auf den Weg.
Aber wohin? Zur Wohnung von Jorge Chavez und Sara Svenhagen natürlich, um den Computer abzuliefern, aber aus irgendeinem Grund wollte sie an diesem Abend nicht allein sein. Sie dachte an die verschwundene Emily Flodberg, angekettet in einem Keller, im Ängermanfluss zur Ostsee treibend oder verirrt und weinend in den dunklen Wäldern von Sollefteä, und sie wollte nicht allein sein. Irgendetwas in der Flodberg'schen Wohnung hatte sich wie ein Stachel der Trauer in ihre Seele gegraben.
Vor ein paar Monaten hatte Kerstin Holm vorsichtig den Kontakt mit Kommissar Bengt Äkesson von der Stockholmer Polizei wieder aufgenommen. Es war nicht ganz leicht gewesen. Es war fast zwei Jahre her, seit sie sich nähergekommen waren; aber damals hatte es andere Menschen gegeben, die im Weg standen, nicht zuletzt eine blonde Sexbombe namens Vickan. Nach zahlreichen Seitensprüngen hatte Äkesson einfach genug gehabt, wie er während eines Essens in einem italienischen Restaurant auf Östermalm offenherzig erzählte, und hatte Vickan vor die Tür gesetzt. Sie hatte es nicht weiter schwergenommen.
»So wichtig ist man also«, hatte Bengt Äkesson mit einem bitteren Lächeln gesagt und Kerstin Holm zugeprostet.
Sie hob ihr Glas und erwiderte: »Ich habe einen Betrüger namens Viktor rausgeworfen. Das war meine letzte Beziehung. Ist fast zwei Jahre her.«
»Da kann man mal sehen«, sagte Äkesson, und das Lächeln veränderte sich. »Viktor und Vickan.«
»Weggeräumte Hindernisse«, lächelte Kerstin. Weiter war es nie gekommen. Ein paar Mal zusammen essen. Ein paar Versuche der Wiedervereinigung von Kerstins Sohn Anders und Bengts Tochter Vera. Das ging gut - die Kinder hatten den Sommer vor zwei Jahren zusammen verbracht, unter Aufsicht von Äkessons Mutter, und sie nahmen den Kontakt sofort wieder auf. Mit den Eltern ging es etwas langsamer. Als ob die Hindernisse überhaupt nicht weggeräumt waren.
Und jetzt war es fast zwei Wochen her, seit sie sich zuletzt gesehen hatten.
Vielleicht war es schon vorbei. Bevor es überhaupt begonnen hatte.
Draußen auf der Babordsgata blieb sie im scharfen Sonnenlicht stehen und holte ihr Handy hervor. Sie tippte auf dem Display den Namen Bengt an und blieb in der vor Hitze zitternden Stille stehen.
Das Einzige, was sich in der Welt bewegte, war die Uhr auf dem Display, die auf 17.08 Uhr wechselte.
Emily Flodberg war jetzt seit genau vier Stunden verschwunden.
6
Kommissar Bengt Äkesson von der Polizei Stockholm trug nie etwas anderes als Jeans. Er hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, dass dies ein Armutszeugnis sein könnte, bis Kerstin Holm über einem Glas Wein in einem italienischen Restaurant auf Östermalm gesagt hatte: »Du solltest vielleicht mal was anderes ausprobieren.«
Es war, als ob ein Weltbild einstürzte. Oder eher entstand. Bengt Äkesson musste sich eingestehen, dass er in seinem ganzen Leben noch nicht über Kleidung nachgedacht hatte. Er sah zwar, wenn eine Frau schick oder sexy gekleidet war - so verhielt es sich zum Beispiel mit dieser Frau auf der anderen Seite des Tisches -, aber an seine eigenen Klamotten hatte er nie einen Gedanken verschwendet.
Von diesem
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