Dunkelziffer
Lesenebel. Sein Falkenauge scannte jede Zeile einzeln. Und schließlich, nach einigen ziemlich unerträglichen Minuten, sagte er: »Ja, es ist Sten Larsson.«
»Danke«, sagte Kerstin Holm von Herzen.
»Ich habe hier den Tag der Urteilsverkündung, das Urteil wurde am einundzwanzigsten Februar 1990 gefällt, für das Verbrechen, das in der Nacht zum dritten Juli 1989 begangen wurde. Sten Larsson, dreiundzwanzig Jahre alt, wird wegen schwerer Vergewaltigung und schwerer Körperverletzung zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt, die er in der Klasse -2- Anstalt in Härnösand abzusitzen hat. Offenbar obwohl er hartnäckig leugnete.«
»Schick mir alles, was du hast, per E-Mail.«
»Selbstverständlich, Chefin.«
»Und Jorge«, sagte Kerstin Holm ein wenig ruhiger. »Vielen Dank.«
»Im Übrigen hat die Zeitung Ängermanland circa neunzig Angestellte«, sagte Jorge und legte auf.
Im Zimmer der Kriminalkommissarin Kerstin Holm herrschte eine paradoxe Ausgelassenheit. Sie hatte das Gespräch auf Lautsprecher gestellt, sodass Arto Söderstedt und Viggo Norlander mithören konnten. Und das hatten sie getan.
»Emily hat den Bericht über die Vergewaltigung durch Sten Larsson also sehr genau gelesen«, sagte Söderstedt und nickte wie ein weiser Albinoinder.
»Und wie haben wir das zu deuten?«, sagte Holm, die sich allmählich verschwitzt fühlte. »Hat sie alle, gegen die sie vorgehen wollte, genau durchleuchtet? Oder geht es speziell um Sten Larsson? Sie hat dafür gesorgt, dass die ganze Schulklasse zu ihm fuhr. Hinter ihm ist sie her, genau hinter diesem Sten Larsson. Nicht hinter Pädophilen und Vergewaltigern im Allgemeinen, sondern hinter Sten Larsson und keinem anderen.«
»Dem eben auch die Kehle durchtrennt wurde, als er ihr begegnete«, sagte Söderstedt. »Ich fürchte, wir müssen Emily Flodberg als Mörderin betrachten. Und jetzt versteckt sie sich vor der Polizei.«
»Die Verbindung mit euren Leichen ist also eine reine Chimäre?«
»Hirngespinst«, sagte Söderstedt und zuckte die Schultern. »Tragischerweise. Wir müssen an unserer eigenen Front weiterarbeiten.«
»Aber worum geht es dabei? Warum hat Emily sich mit dem Fall Sten Larsson so engagiert beschäftigt? Warum fährt sie nach Saltbacken und ermordet diesen Pädophilen und Vergewaltiger?«
Viggo Norlander hatte längere Zeit nichts gesagt. Jetzt beugte er sich ein wenig vor - nur ein ganz klein wenig, verglichen mit den immer gebückteren Denkerposen der beiden anderen -, um etwas zu sagen.
Er sagte: »Aber das ist doch völlig klar.«
Er wurde mit dem gleichen Blick wie vorher belohnt, dem gleichen Erstaunen, teils darüber, dass er sich äußerte, teils über seine bloße Existenz.
»Was ist völlig klar?«, fragte Kerstin Holm mit übertriebener Artikulation, als ob sie mit einem autistischen Kind spräche.
»Er ist der Vater«, sagte Viggo Norlander einfach. »Wie?«
»Jetzt denkt doch mal nach«, sagte Norlander und fühlte sich cooler denn je. »Emily ist am vierten April 1990 geboren. Die Vergewaltigung fand am dritten Juli 1989 statt. Wenn das nicht neun Monate sind, bin ich Käpt'n Blaubär.«
Es wurde völlig still im Zimmer. Das Einzige, was zu hören war, war das ewige Hintergrundgeräusch der Leuchtstoffröhren. Als ob man in der hellen Sommernacht Licht gebraucht hätte.
Einige Minuten vergingen.
In diesen Minuten erlebte Viggo Norlander den vielleicht größten Triumph seines Lebens. Nur die Geburt seiner Töchter konnte damit konkurrieren.
»Käpt'n Blaubär?«, fragte Kerstin Holm schließlich.
»Du hast ja heute richtig Biss«, sagte Arto Söderstedt und boxte seinen Kollegen gegen den Oberarm.
»Ihr denkt zu ausschweifend«, sagte Viggo Norlander genügsam. »Ich bin Minimalist.«
»Wartet, wartet, wartet«, sagte Kerstin Holm und gestikulierte wild (ziemlich ausschweifend, musste sie zugeben). »Eines der Opfer der Vergewaltigung in Ängermanland 1989 sollte also Birgitta Flodberg sein. Sie hat ihrer Tochter die ganze Geschichte verheimlicht. Aber die Tochter ist schlau und versteht sich auf Computer. Sie findet es irgendwie heraus und nimmt Kontakt mit ihrem Vater auf, dem Vergewaltiger. Aber das macht es doch unwahrscheinlich, dass sie ihn ermordet. Würde sie wirklich ihren eigenen Vater ermorden, Vergewaltiger oder nicht? Fährt sie nicht in Wirklichkeit dorthin, um mit ihm zu sprechen ? Reden sie nicht übers Handy miteinander, um ein Treffen zu vereinbaren? Vater und Tochter?«
»Vielleicht«, sagte
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