Dunkelziffer
Serie von Belästigungen lediglich die Auswirkungen eines neurologischen Defekts waren? Wenn er obszöne Handlungen ausführte und sie anschließend sofort wieder vergaß?
Wenn Bengt Äkesson Kerstin Holm schon vergessen hatte?
Das ist keine besonders gute Idee, dachte Paul Hjelm und konzentrierte sich wieder auf den Bildschirm; die Neugier war trotz allem vorhanden, während sie bei Äkesson offenbar völlig fehlte. Nein, es war keine besonders gute Idee, Spekulationen über Äkessons Charakter anzustellen - es endete zwangsläufig damit, dass seine Gedanken bei Kerstin Holm landeten.
Eigentlich war das ziemlich seltsam. Es war Gott weiß wie viele Jahre her, dass Paul Hjelm und Kerstin ein Verhältnis gehabt hatten - dennoch konnte er den Gedanken daran nicht richtig abschütteln. Es war, als ob ihr Duft, ihre Lockstoffe von Äkessons Körper ausgesondert würden.
Es war an der Zeit, eine Frau zu finden.
Paul Hjelm spürte plötzlich, dass die Gefahr bestand, verschroben zu werden. War es nicht schiere Faulheit, die ihn seit über einem Jahr von Frauen fernhielt? Wurde das Bedürfnis nach Ruhe und Frieden allmählich wichtiger als das nach Leidenschaft und Gefühlsstürmen?
Es musste etwas passieren.
Und es passierte etwas.
Doch das hatte nichts mit Paul Hjelms Leben zu tun.
Es passierte auf der anderen Seite des Schreibtischs.
Bengt Äkesson schlief ein. Sein Kinn sackte langsam auf die Brust. Nachdem er zur Einleitung ein paar Baumstämme zersägt hatte, wurde sein Schnarchen so laut, dass er sich selbst weckte. Er wischte sich instinktiv eingebildeten Speichel vom Kinn, versuchte, hellwach auszusehen, und sagte nicht: »Wie ist es möglich, dass sie den Mist ohne jede Zeitmarkierung auf einer Festplatte speichern?«
Stattdessen sagte er: »Aber verdammt, da ist es ja!«
Natürlich hätte Hjelm unmittelbar darauf reagieren müssen - er starrte ja praktisch darauf. Trotzdem dauerte es mehrere Sekunden, bis er begriff, wohin Äkessons Zeigefinger zeigte.
Es bewegte sich etwas unter der gelben Plane in der Stora Nygata. Noch war nichts weiter zu sehen. Sie hatten beide verpasst, wer in die Grube gestiegen war. Aber es ließ sich nicht abstreiten, dass es Bengt Äkesson war, der es - im Schlaf - entdeckt hatte.
Auch die Anwesenheit des Achtels eines Firmenwagens mit einer Plane über der Ladefläche am rechten Bildrand ließ sich nicht abstreiten. Die Beschriftung >Kvarns Elektriska AB< war deutlich zu erkennen.
Sie warfen sich beide über den Schreibtisch. Äkesson wischte sich noch einmal sein trockenes Kinn ab, und Hjelm verfluchte noch einmal sein nahezu kriminelles Versäumnis.
Die gelbe Plane bewegte sich immer lebhafter.
Wie ein Rapsfeld im böigen Wind.
Schließlich wurde die Plane zur Seite geschlagen. Und der Mann, der den Kopf aus der Grube streckte und sich mit den ersten Anzeichen von Paranoia in den Augen umsah, war unverkennbar Stefan Willner.
Es war, als ließe er Licht hinein, um besser zu sehen. Als wäre das, was er jetzt betrachten wollte, das ganze Risiko, sich selbst zu entblößen, wert. Als wäre es ganz einfach die fünfzehn Sekunden im Rampenlicht wert.
Mehr als das war es kaum. Aber die Kameraperspektive war erstaunlich gut, perfekt.
Stefan Willner hatte in der Grube einen großen, ziemlich morschen Sarg freigelegt. Er wischte rasch die Oberseite mit der Hand frei und hob dann den massiven Deckel ab.
Es war zunächst schwer zu erkennen, was da zum Vorschein kam.
Ein geschwärztes Skelett.
Aber etwas daran stimmte nicht. Etwas daran war nicht richtig - menschlich.
Hjelm und Äkesson warfen sich einen hastigen Blick zu. Verwunderung war nicht das richtige Wort für das, was sie in den Augen des anderen erkannten. Während sie gleichzeitig, wenngleich wortlos, einen Namen für diesen Gesichtsausdruck zu suchen schienen, den sie teilten, hatte Stefan Willner den Deckel wieder auf den Sarg gelegt. Er befestigte ein Seil daran, sprang auf die Ladefläche, hob den Sarg mit dem Kran hoch und schwenkte ihn in den Firmenwagen.
Dann machte er sich auf in das bessere Leben.
Hjelm tippte auf die eingebaute Maustaste des Laptops und hielt das Video an. Es blieb genau in dem Moment stehen, als der Firmenwagen aus dem Bild verschwand. Es war ein Bild von aufgeladener Leere, von einer wahrhaft sprechenden Stille.
»Aber was zum Teufel ist das?«, sagte Äkesson und wischte sich noch einmal übers Kinn.
»Das muss man heranzoomen können«, sagte Hjelm und klickte ein paarmal mit
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