Dunkelziffer
Söderstedt. »Aber jetzt gibt es jedenfalls sehr gute Gründe, noch einmal mit Birgitta Flodberg zu sprechen.«
»Denkt an den Helen-Mord«, sagte Viggo Norlander minimalistisch.
»Was?«, entfuhr es Kerstin Holm - und langsam war sie es müde, dass ihr ständig etwas entfuhr. Sie spürte, dass sie sich ein wenig Minimalismus zulegen musste. Aber schon der Gedanke, dass ausgerechnet Viggo Norlander imstande sein sollte, sie etwas zu lehren, schien ihr besonders fremd.
»Man hatte Sperma aus den Achtzigerjahren aufbewahrt«, sagte Norlander, »und konnte kürzlich eine DNA-Analyse durchführen. Und so hat man den schäbigen Mörder der kleinen Helen Nilsson gefasst. Vielleicht ist auch von diesem Fall noch Sperma vorhanden. Der war ja sogar etwas später.«
»Du übertriffst dich heute selbst«, entfuhr es Kerstin Holm, und sie wurde richtig wütend auf sich selbst.
»Das muss selbstverständlich überprüft werden«, sagte Söderstedt. »Schick sofort eine Mail an Sara.«
»Ja, Chef«, sagte Holm minimalistisch und begann zu schreiben.
Dann hielt sie inne, wandte sich zu Viggo Norlander, starrte ihn an und sagte: »Wer zum Teufel ist Käpt'n Blaubär?«
Natürlich hätte Paul Hjelm nach Hause gehen können. Natürlich hätte er den Angeklagten im Schweiße seines Angesichts allein lassen und Feierabend machen und sich in seine triste Junggesellenwohnung in der Slipgata auf Söder setzen können. Natürlich hätte er.
Wenn er nur nicht so verdammt neugierig gewesen wäre.
Also war er um halb acht am Abend noch nicht nach Hause gegangen. Und hätte er nicht am anderen Ende des Polizeipräsidiums gesessen, hätte er vielleicht gemerkt, dass auch seine früheren Bundesgenossen von der Spezialeinheit für Gewaltverbrechen von internationalem Charakter bei der Reichskriminalpolizei, besser bekannt als die A-Gruppe, noch nicht Feierabend machten.
Und schon gar nicht das Trio, das sich fünfhundert Kilometer nördlich von hier befand.
Aber das ist - vorläufig noch - eine ganz andere Geschichte.
Sie saßen in Bengt Äkessons Zimmer, dem eigentlichen Tatort, und sahen Videos an. Im Grunde war es unerträglich. Stunde um Stunde glitten unsortierte, undatierte, unhandliche Filme auf dem großen externen Bildschirm von Hjelms Laptop vorüber. Äkesson schlief manchmal ein, und wenn er aufwachte, wischte er sich jedes Mal instinktiv eingebildeten Speichel vom Kinn, versuchte, hellwach auszusehen, und sagte: »Wie ist es möglich, dass sie den Mist ohne jede Zeitmarkierung auf einer Festplatte speichern?«
Jedes Mal.
Und bis jetzt war er ungefähr zwanzigmal eingenickt. Ohne abzustreiten, dass Äkessons ständig wiederholte Bemerkung etwas für sich hatte, fragte sich Paul Hjelm, was in Äkessons Kopf vorging. Es war, als ob jedes Einnicken die Erinnerung an jedes vorhergegangene auslöschte, als hätte Nietzsche recht mit seiner Idee von der ewigen Wiederkehr. Alles ist immer nur Wiederholung. Äkesson saß da und nickte ein, und mit jedem Einnicken bewies er immer deutlicher eine philosophische Grundthese in der entwicklungspessimistischen Tradition. Wir wiederholen uns, weil wir uns nicht erinnern. Die Erinnerung ist der Garant dafür, dass wir uns nicht wiederholen. Nur so lässt sich die entwicklungsoptimistische These formulieren: Historische Kenntnisse können historische Wiederholungen verhindern. Erst möglichst vollständige Kenntnisse versetzen uns in die Lage, die Fehler der Geschichte nicht zu wiederholen.
Aber Paul Hjelm, der nicht so schnell einschlief - er kannte sogar leichte Schlafstörungen -, war kein richtiger Entwicklungsoptimist. Allerdings auch kein Pessimist. Seine Gedanken wanderten, während er den unerträglich begrenzten Abschnitt der Stora Nygata beobachtete. Aber wanderten sie wirklich in eine bestimmte Richtung?
Sie landeten bei Bengt Äkesson. War etwas mit Äkessons Kopf nicht in Ordnung? Nicht ein einziges Mal schien es ihm peinlich zu sein, dass er sich dauernd wiederholte. Es gab bei ihm anscheinend einen mentalen Zustand, in dem alles Vergangene praktisch verschwand - kein gutes Zeichen bei einem Polizisten. Besonders nicht bei einem Polizisten, der wegen sexueller Belästigung angezeigt worden ist. Und ganz besonders nicht, wenn er Kerstin Holms Geliebter ist.
Wenn es sich nun tatsächlich so verhielt, dass er Marja Willner sexuell belästigt hatte, ohne hinterher auch nur einen blassen Schimmer davon zu haben? Wenn es sich verhielt wie beim Tourette-Syndrom, dass also eine
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