Dunkle Gebete
Eindringling, und ihr stetiges Surren nahm einen zornigen Ton an.
Der Leichnam von Karen Curtis lag auf dem großen Doppelbett. Die Tagesdecke war altmodisch, von einer Machart, die man als Knötchenstickerei bezeichnet, glaube ich. Lange, schmale Furchen zogen sich über den Stoff. Die Furchen hatten als Abflusskanäle für Karens Blut gedient, hatten es von ihrer grauenhaften Wunde fortgeleitet, über das Bett und hinunter auf den geblümten Teppich. Karen war übergewichtig gewesen und hatte blaue Hosen und eine bunte Kittelbluse getragen. Ihre Schuhe, die auf dem Kopfkissen lagen, sahen teuer aus, und als sie umgebracht worden war, hatte sie eine dicke Bernsteinkette um den Hals getragen. Sie lag am Fußende des Bettes.
Ich hörte, wie Mizon wieder ins Zimmer kam.
Soweit ich sehen konnte, war Karen nicht gefoltert worden. Wahrscheinlich hatte man sie schnell getötet. Das alles setzte natürlich voraus, dass dies hier tatsächlich Karen war. Weil man das nämlich unmöglich mit Sicherheit sagen konnte. Mizon und ich hatten unten Fotos von Karen gesehen, wir wussten genau, wie sie aussah. Das würde uns nicht viel helfen. Der Kopf dieser Frau war nirgends zu sehen.
67
»Ich glaube nicht, Liebes«, sagte die arme alte Dame. »Die da hat dieselbe Haarfarbe, aber …«
Evadne Richardson saß im Vernehmungszimmer auf dem Revier von Lewisham. Kurz nachdem wir Karen Curtis’ Tod gemeldet hatten, hatten wir ihre Mutter aus dem Haus geschafft, und ich hatte sie quer durch London hierhergefahren. Sie wusste, dass wir die Frau, die im ersten Stock ihres Hauses gefunden worden war, bisher nicht offiziell identifizieren konnten, doch ihre Beschreibung von Karens Kleidung ließ wenig Zweifel. Mehrmals hatte sie darum gebeten, ihre Tochter zu sehen, und verstand nicht, warum wir immer wieder sagten, das sei nicht möglich.
Sie war tapferer, als ich in ihrer Situation wohl gewesen wäre.
»Lassen Sie sich Zeit«, sagte ich. »Es ist wichtig, dass Sie sich sicher sind.«
Wieder betrachtete sie den Schnappschuss von Cathy und Victoria Llewellyn, ehe sie die Brille abnahm und sich das Foto ganz dicht vors Gesicht hielt. Ich ließ ihr Zeit und war mir der Tatsache bewusst, dass uns oben im Einsatzraum bestimmt jemand zusah. Sie schüttelte abermals den Kopf, und ich sah eine Träne im Winkel des einen Auges schimmern.
»Dieses Bild wurde vor langer Zeit aufgenommen«, sagte ich. »Die Mädchen müssten jetzt älter sein, Mitte zwanzig. Was ist mit der hier?« Ich zeigte auf das ältere der beiden Mädchen.
»Sie sieht aus, ich weiß nicht, vielleicht war sie es ja.« Evadne blickte zu mir auf und schaute dann wieder auf das Foto hinunter. »Sie war hübsch, Liebes, genau wie Sie. Ein nettes kleines Ding.«
Mein Gesicht war noch immer geschwollen und verfärbt. Ich war alles andere als hübsch. Allmählich kam mir der Verdacht, dass Evadne Richardson als Augenzeugin vor Gericht wenig nützen würde.
»Haben Sie das Gesicht der Pflegerin gut sehen können?«, fragte ich; ich wusste, dass ich das Protokoll einhalten musste. »Ist Ihnen zum Beispiel vielleicht eine Narbe aufgefallen?« Tulloch hatte mich angewiesen zu überprüfen, ob unsere Pflegerin Ähnlichkeit mit Emma Boston hatte. Bisher stimmten Emmas Alibis, doch Tulloch ließ sie nicht so einfach vom Haken.
Mrs. Richardson überlegte einen Moment, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein«, sagte sie, »ich habe keine Narbe gesehen. Glauben Sie, sie könnte meiner Karen etwas getan haben? Eine Krankenpflegerin?«
»Ich glaube, das war gar keine Krankenpflegerin«, antwortete ich.
Oben im Einsatzraum stellte ich fest, dass Tulloch aus Evadne Richardsons Haus zurückgekehrt war. Karen Curtis’ abgetrennter Kopf – wir mussten vorerst davon ausgehen, dass es sich bei der Ermordeten um Karen Curtis handelte – war nicht im Haus zu finden gewesen. Niemand hatte die offenkundige Frage laut ausgesprochen.
»Die Frau in Mrs. Richardsons Haus wurde vor sechsunddreißig bis achtundvierzig Stunden getötet«, berichtete Tulloch. »Jedenfalls nach Ansicht des Arztes. Wir wissen, dass Karen Curtis am Montagabend um halb acht noch am Leben war, denn da hat ihre Mutter sie zum letzten Mal gesehen. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist sie kurz danach umgebracht worden.«
»Von dieser Pflegerin«, meinte Anderson.
»Wahrscheinlich«, stimmte Tulloch ihm zu. »Unsere Mörderin, die Mrs. Curtis’ Gewohnheit, montagabends ihre Mutter zu besuchen, kannte, ist an diesem Nachmittag
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