Dunkle Gebete
können ein Team haben«, fuhr sie fort. »Ein paar Polizistinnen in Zivil. Außerdem müssen wir Leute nach Cardiff schicken.«
»Die beiden haben doch geerbt«, wandte Stenning ein. »Vielleicht sind sie ja weg von der Straße. Und sie könnten auch zusammenarbeiten. Vielleicht suchen wir ja nach zwei Frauen.«
»Wir dürfen nichts ausschließen«, erwiderte Tulloch. »Wir brauchen beide.«
»Cathy habe ich heute Nachmittag gefunden«, sagte Joesbury ruhig.
Stille.
»Wie bitte?«, fragte Tulloch.
»Vor einer Stunde«, ergänzte er. »Gleich nach dem Mittagessen.«
Tulloch sah aus, als hätte er sie geohrfeigt. »Und warum in Gottes Namen hast du nichts gesagt? Ich will, dass sie festgenommen wird. Sofort.«
»Ich fürchte, das geht nicht.«
»Und warum nicht?«
Jetzt sah Joesbury wieder mich an. »Sie ist seit über zehn Jahren tot.«
68
Tulloch erhob sich, ging zum Fenster hinüber, stützte beide Hände aufs Fensterbrett und atmete tief durch.
»Weiter«, sagte sie.
»Ich bin misstrauisch geworden, als Neil gesagt hat, Victoria hätte Anspruch auf das Erbe ihres Großvaters erhoben«, erklärte Joesbury. »Wenn er gestorben ist, ohne ein Testament zu hinterlassen, wäre sein Vermögen zu gleichen Teilen unter seinen nächsten lebenden Verwandten aufgeteilt worden. Victoria hätte die Hälfte bekommen; der Rest wäre für Cathy aufbewahrt worden, wenn sie irgendwann einmal aufgetaucht wäre.«
»Wenn Victoria alles bekommen hat, heißt das, dass sie die Einzige war, die noch am Leben war«, stieß Tulloch hervor. »Scheiße, daran hätte ich denken müssen.«
»Cathy Llewellyn ist vor zehn Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen«, sagte Joesbury. »Sie ist ungefähr sechs Monate nach der mutmaßlichen Vergewaltigung durchgebrannt. Ich nehme an, dass sie sich nach London durchgeschlagen hat, denn im Sommer darauf hat sie auf einem halb verfallenen Hausboot in der Nähe von Deptford Creek gewohnt. Hat sich mit einer Gruppe anderer Jugendlicher illegal in dem Kahn eingenistet.«
»Weiter«, drängte Tulloch.
»Eines Nachts hat sich das Boot von den Tauen losgerissen und gleichzeitig auch noch Feuer gefangen. Niemand weiß genau, wie viele Kids an Bord waren, aber es sind fünf Leichen im Fluss gefunden worden. Ein Junge namens Tye Hammond hat überlebt, und er konnte sich nur an fünf andere erinnern.«
»Woher weißt du das alles?«, fragte Tulloch.
»Ich habe im Sterberegister nachgeschaut«, antwortete Joesbury. »Da habe ich Cathys Todesdatum gefunden und mir den Bescheid des Gerichtsmediziners und dann die Presseberichte rausgesucht.«
»Und es besteht kein Zweifel, dass es Cathy war?«, fragte Tulloch. »Haben sie die zahnärztlichen Unterlagen überprüft?«
»Davon stand da nichts drin«, erwiderte Joesbury. »Aber das war auch gar nicht nötig. Der Leichnam ist identifiziert worden. Anscheinend war er nicht sehr stark verbrannt. Sie ist ertrunken.«
»Wer hat sie identifiziert?«
»Big Sister Victoria. Nachdem die gerichtsmedizinische Untersuchung vorbei war, hat sie den Leichnam abgeholt und ihn einäschern lassen.«
Tulloch schloss die Augen. Ein paar Momente lang sahen wir zu, wie sie atmete. Dann öffnete sie sie wieder.
»Und was ist mit Victoria?«, fragte sie.
»Noch immer nichts«, erwiderte Joesbury. »Seit sie das Erbe ihres Großvaters beansprucht hat, hat niemand etwas von ihr gehört.«
Tulloch hob den Kopf. Ihr Gesicht war verhärmt und verkniffen. »Nun ja, das macht es einfacher«, verkündete sie. »Also ist Victoria diejenige, die wir suchen.«
69
Donnerstag, 4. Oktober
Der Nachmittag, an dem Geraldine Jones’ Beerdigung stattfand, war ein Herbsttag wie aus dem Bilderbuch. Strahlend und wolkenlos; nur ein paar Blätter im Rinnstein erinnerten daran, dass der Sommer den Rückzug angetreten hatte. Die meisten vom MIT gingen hin. Danach fuhren Tulloch und Anderson zu einer Pressekonferenz ins Gebäude von New Scotland Yard. Wir Übrigen kehrten nach Lewisham zurück. Ich verbrachte den Nachmittag an meinem Schreibtisch und tat so, als arbeite ich. Man ließ uns wissen, dass Joesbury eine Spur in Sachen Llewellyn-Schwestern verfolgte, von ihm selbst jedoch hörten wir nichts.
Die Zeit hatte Fahrt aufgenommen, schien es mir. Jede Uhr im Raum ging vor, jede Armbanduhr. Optionen zerrannen wie Eis auf einem Grillrost, und ich hatte keine Ahnung, was ich als Nächstes tun sollte.
Noch war es erst vierundzwanzig Stunden her, dass der – wenngleich
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