Dunkle Gebete
stehen.
Die tiefe Stimme mit dem deutlichen Südlondoner Akzent war mir bereits unangenehm vertraut. Joesbury war kaum einen Meter entfernt, gleich um die Ecke. »Ich sage nur, behalt sie im Auge«, sagte er. »Und das geht viel besser, wenn sie hier in der Nähe ist. Und lass mich ein paar diskrete Erkundigungen anstellen.«
»Und das hat nichts damit zu tun, dass sie umwerfend …«
Joesbury ließ Tulloch nicht ausreden. »Sagen wir einfach, mein ›Spinnensinn‹ fängt an zu kribbeln«, sagte er mit einer Stimme, die durch das Gurgeln des Getränkeautomaten kaum zu hören war. »Tu mir den Gefallen, Süße, okay?«
Zurück im Einsatzraum saß ich allein da und wartete. Wenn ich nach Lewisham versetzt wurde, konnte ich Kontakt zu Rona und ihren Freundinnen aus der Siedlung halten, und ich würde mitbekommen, wie es mit den Mordermittlungen voranging. Die Frau hatte meine Hand gehalten. Ich konnte nicht anders, ich war neugierig. Andererseits wollte ich eigentlich nicht unbedingt von Leuten umgeben sein, die wussten, was für Mist ich gestern Abend gebaut hatte. Und ich wusste noch immer nicht recht, was ich von Joesbury und seinen Mätzchen halten sollte.
Ich ging zu einem Schreibtisch, öffnete mit einem Fernabfrage-Passwort die Website der Londoner Polizei und gab SO10 ein.
Das nicht mehr SO10 hieß, wie ich erfuhr, sondern in »Specialist Crime Directorate« oder SCD10 umbenannt worden war. Inoffiziell und im Polizeijargon jedoch war SO10 hängen geblieben. Ich las, dass die Einheit in den Sechzigern gegründet worden war, um Informationen über das organisierte Verbrechen und über prominente Kriminelle zusammenzutragen. Dank des technischen Fortschritts zählte das Spezialkommando mittlerweile zur Weltspitze in Sachen verdeckte Ermittlungen.
Also hatte ich die Aufmerksamkeit eines ranghohen Beamten einer Eliteeinheit erregt. Nicht schlecht!
Nach einer Stunde kam ein Mitglied von Tullochs Team, ein gutaussehender Schwarzer Ende zwanzig, der sich als Tom Barrett vorstellte, und bat mich, einen Blick auf die Aufnahmen der Überwachungskameras in der Umgebung des Tatorts zu werfen. Barrett und ich gingen über den kleinen Innenhof zu einem anderen Flügel der Dienststelle und einem winzigen fensterlosen Kabuff mit einem Bildschirm darin. Die folgenden drei Stunden sah ich mir scheinbar endlose Aufnahmen von Fußgängern und Autos in der Umgebung der Wohnsiedlung an, wo der Mord stattgefunden hatte. Ich sah mich selbst in meinem schwarzen Golf die Camberwell New Road hinunterfahren und auf den Parkplatz abbiegen.
»Was ist das?«, fragte ich ein paar Minuten später. Ungefähr eine halbe Stunde, nachdem ich auf den Parkplatz gefahren war, nahm ein anderer Wagen – einer, der in den innerstädtischen Wohngebieten Londons definitiv fehl am Platz war – denselben Weg.
»Der ist uns auch schon aufgefallen«, meinte Barrett und schaute auf ein paar hingekritzelte Notizen hinunter. »Ein Lexus LS 460 , Farbe Toskana Oliv, kostet von sechzigtausend aufwärts. Wir konnten nur die letzten paar Ziffern auf dem Nummernschild erkennen, also wird es eine Weile dauern, ihn zu finden, aber interessant ist er auf jeden Fall.«
»Genau so ein Auto hätte sie gefahren«, sagte ich.
Barrett pflichtete mir bei, und wir machten uns wieder an die Arbeit. Nach einer Stunde kamen Sandwiches und Saft. Um drei Uhr nachmittags war ich kurz davor, mir die Pulsadern aufzuschneiden. Nichts, absolut nichts Außergewöhnliches war zu entdecken gewesen, und ich wusste auch nicht recht, was wir erwartet hatten. Einen Wahnsinnigen mit irrem Blick vielleicht, der bluttriefend die Camberwell New Road hinuntertorkelte?
Um zehn vor vier sahen wir uns die letzte Aufnahme an, und ich empfand ein Gefühl unmittelbar bevorstehender Freiheit. Ich würde nach Hause fahren, die Rollos herunterziehen, einen Film einlegen und mich auf dem Sofa einrollen. Wenn ich Glück hatte, würde ich vor morgen früh nicht aufwachen.
Es sollte nicht sein. Wir hatten noch nicht einmal den Recorder ausgeschaltet, als die Tür aufging und Tulloch erschien. Ein blauer Baumwolltrenchcoat hing ihr lose um die Schultern. Sie nickte Barrett zu und wandte sich dann an mich. »Sieht aus, als hätte ich Sie am Hals, Flint«, sagte sie. »Sie sind bis auf Weiteres dieser Dienststelle zugeteilt und werden Ihre laufenden Projekte aus Southwark von hier aus weiterführen. Kommen Sie, ich fahre Sie nach Hause. Wir können uns unterwegs unterhalten.«
14
»Wir haben den
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