Dunkle Gebete
sobald ich die Wagentür zugeschlagen hatte. Ich sah, wie der silberne Mercedes auf die Hauptstraße einbog, und fühlte mich seltsam ausgeschlossen.
Nichts zu machen. Ich war eine Zeugin, keine Ermittlerin, und ich war endlich zu Hause. Tulloch hatte recht, ich sollte mich ausruhen.
Doch überall um mich herum ging das Leben weiter, und der Abend war von jenem goldenen Licht erfüllt, mit dem der September so oft gesegnet ist. Es war wirklich kein Abend, um allein zu Hause zu bleiben. Selbst wenn man ich war. Ich ging hinein und sprang unter die Dusche. Dreißig Minuten später war ich unterwegs, fest entschlossen, es ein wenig krachen zu lassen.
Oder vielleicht auch nicht. Normalerweise steht keine ziemlich verwahrloste junge Frau in einer rosa Jacke auf der obersten Stufe der Treppe, die zu meiner Kellerwohnung führt, so als könne sie sich nicht entscheiden, ob sie zu meiner Tür hinuntergehen soll oder nicht. Sie fuhr zusammen, als ich auftauchte, dann trat sie zurück und wartete, bis ich zu ihr auf den Gehsteig hinaufkam.
»Lacey«, sagte sie – sehr zu meinem Erstaunen, denn ich wusste genau, dass ich sie noch nie gesehen hatte. »Kann ich Sie kurz sprechen? Wegen dem Mord gestern Abend? Da gibt’s etwas, das Sie unbedingt wissen müssen.«
15
»Kenne ich Sie?«, fragte ich.
Die junge Frau war Anfang zwanzig, und – ich weiß, das sollte man nicht sagen – sie gehörte zu den Menschen, die anzusehen nicht gerade ein Vergnügen ist. Ihr schwarz gefärbtes Haar war mit irgendwelchem schmierigen Zeug nach hinten geklatscht, und sie hatte vergeblich versucht, ein Pickelbeet am Kinn mit zu viel Make-up zuzukleistern. Ich zählte sechs Stecker in ihrem linken Ohr. Ein rechtes Ohr hatte sie nicht. Die Verbrennungsnarben an ihrem rechten Unterkiefer und seitlich am Hals sahen schauerlich aus.
»Ich heiße Emma Boston«, sagte sie mit einer Stimme, die einer betagten Raucherin hätte gehören können. »Ich bearbeite den Mord von gestern Abend. Ich habe Informationen für Sie. Können wir reingehen?«
»Wie meinen Sie das, Sie bearbeiten einen Mordfall?« Ich versuchte mich zu erinnern, ob ich sie schon einmal in Lewisham oder in Southwark gesehen hatte.
Emma Boston trug eine riesige Sonnenbrille, eine von denen, die es unmöglich machen, die Augen dahinter zu sehen. Ich überlegte, ob ihre Augen vielleicht auch vom Feuer geschädigt worden waren. »Sie waren doch diejenige, die sie gefunden hat«, sagte sie gerade. »Ich hab gehört, sie hätte noch gelebt. Stimmt das?«
Diese Frau war keine Polizistin. »Ich frage Sie jetzt noch einmal, dann muss ich Sie auffordern, von meiner Treppe zu verschwinden. Was genau machen Sie hier?«
Boston wollte gerade antworten, als sie einen Hustenanfall bekam. »Hat sie was gesagt, bevor sie gestorben ist?«, brachte sie heraus, nachdem sie wieder zu Atem gekommen war. »Wissen Sie schon, wer sie ist?«
Mir dämmerte es. »Sind Sie Reporterin?«, fragte ich.
Ihre Lippen zuckten und verzogen sich zu einem Schmollmund. Sie war es gewöhnt, dass sie bei den Leuten nicht gut ankam. »Schauen Sie, wir müssen beide unseren Job machen«, sagte sie. »Ich glaube einfach, wir könnten einander helfen.« Sie sah sich auf der Straße um. »Ich habe wirklich ein paar Informationen.«
»Detective Tulloch leitet die Ermittlungen«, sagte ich. »In der Polizeidienststelle in Lewisham.«
»Okay«, antwortete sie. »Aber ich habe einen Brief, der von dem Mörder sein könnte, und da Sie da drin namentlich erwähnt werden, dachte ich, das interessiert Sie vielleicht. Hab mich geirrt.«
Sie drängte sich an mir vorbei und ging die Straße hinauf auf die Wandsworth Road zu. Ich sah ihr nach und war mir ziemlich sicher, dass sie log, aber …
Zehn Meter vor der Ecke holte ich sie ein.
»Entschuldigen Sie«, sagte ich. »War ein langer Tag.«
Ihre Lippen entspannten sich, und sie warf einen schnellen Blick auf den Pub an der Ecke. »Geben Sie mir einen aus?«, fragte sie.
Es war Samstagabend, und der Pub war voll, doch wir gingen in den Biergarten hinaus und fanden ein Stück freie Mauer, an das wir uns lehnen konnten. Emma Boston zog eine Packung Zigaretten aus der Tasche und zündete sich eine an. Ich nippte an meiner Cola light und wartete. Sie hustete abermals und ertappte mich dabei, wie ich die Zigarettenpackung musterte.
»Ich sollte nicht rauchen«, meinte sie. »Aber meine Lunge ist sowieso im Arsch, also sage ich mir, was soll’s.«
»Das tut mir leid«, sagte ich.
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