Dunkle Gebete
Alles war relativ. Mein Leben war nicht gerade super, es wäre jedoch sehr viel schlimmer, wenn ich so aussehen würde wie sie.
»Alles, was Sie mir sagen, kann vertraulich behandelt werden«, sagte sie, nachdem sie inbrünstig an ihrer Zigarette gezogen hatte. »Ich werde Sie nicht zitieren oder so was.«
»Ich verstehe.« Ich wusste, dass Polizeibeamte ihren Job und ihren Ruf reingebüßt hatten, weil sie vertraulich mit der Presse geredet hatten. Emma Boston hatte keinen Notizblock gezückt, und ich fragte mich, ob sie unser Gespräch wohl aufnahm. Sie hatte eine schäbige Segeltuchtasche sehr dicht neben mich gestellt. »Aber es hört sich an, als wüssten Sie im Moment mehr als ich«, fuhr ich fort. »Ich bin an den Ermittlungen nicht beteiligt.«
»Sie haben sie gefunden, nicht wahr?«
Ich nickte.
»Hat sie was gesagt?«
»Sie haben gesagt, Sie hätten einen Brief?«, fragte ich. Ich konnte es mir nicht leisten, Emma Boston mehr zu erzählen, als ich sollte, nur weil sie mir leidtat. »Einen Brief, in dem ich erwähnt werde«, fuhr ich fort. »Wenn das ein Trick war, damit ich mitkomme, dann gehe ich jetzt nach Hause.«
Sie griff in ihre Tasche und zog eine dünne, durchsichtige Plastikhülle hervor, in der Papier steckte.
»Niemand außer mir hat das Ding angefasst«, beteuerte sie. »Ich wusste nicht, was es war, bis ich es aus dem Umschlag geholt hatte, und dann hab ich es auch sofort wieder in die Hülle gesteckt. Das war doch richtig, oder?« Sie schien meine Zustimmung zu brauchen.
»Ist das mit der Post gekommen?«, fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Das Ding ist irgendwann gestern Nacht bei mir zu Hause durch den Briefschlitz geschoben worden. Ich hab’s heute Morgen gefunden.«
»Kann ich mal sehen?«
Sie reichte mir die Hülle. Darin steckte ein Blatt hellbraunes Papier von normaler Briefpapiergröße. Es war einmal längs und zweimal quer gefaltet gewesen; die Faltstellen waren ziemlich deutlich zu sehen. Die Handschrift war sauber und leserlich. Rote Tinte. Das Ganze hatte etwas beklemmend Vertrautes. Ich las den Inhalt rasch durch. Bevor ich halb zu Ende war, spürte ich ein Kribbeln in den Wangen.
Liebe Miss Bosston,
ich höre immer, Saucy Jacky ist wieder da. Was hab ich gelacht. Stimmt das? Wenn ja, dann hoffe ich, die Polizei ist schlau und auf der richtigen Spur.
Fragen Sie DC Flint für mich – hat die Dame gekreischt? Keine Zeit, ihr die Ohren abzuschneiden, aber noch jede Menge Zeit für komische Spielchen.
Ihr ergebener
Freund oder Feind
Ich hoffe, Sie stehen auf das richtig rote Zeug.
Ich reichte den Brief zurück. »Unverständliches Geschwafel«, meinte ich. »Irgendein Spinner findet das wohl witzig.«
Emma Boston neigte den Kopf, als mustere sie mich hinter der dunklen Sonnenbrille genauer. »Sind Sie sicher?«, fragte sie. »Sie sind ganz blass geworden.«
Ich machte mir im Geist eine Notiz, dass man Miss Boston wohl nicht unterschätzen sollte.
»Ehrlich gesagt, zuerst hab ich das auch für einen Witz gehalten«, fuhr sie fort. »Aber dann habe ich herausgefunden, dass Sie bei ihr waren, als sie gestorben ist, und da bin ich stutzig geworden. Das wissen bestimmt nicht viele Leute.«
Es störte mich mehr, als ich zugeben wollte, dass Leute, die ich nicht kannte, mit meinem Namen um sich warfen. Doch es störte mich nicht halb so sehr wie die Gewissheit, dass ich diesen Brief, oder etwas ganz Ähnliches, schon einmal gesehen hatte. »Na, wenn Sie das rausgefunden haben, kann’s ja nicht so schwer sein«, spielte ich auf Zeit.
»Wir hören den Polizeifunk ab«, erklärte sie, als wolle sie mich herausfordern, Anstoß daran zu nehmen. »Mein Freund hat die Funksprüche von gestern Abend aufgenommen. Die meisten Leute haben gar nicht die Ausrüstung für so was. Aber wo’s bei mir wirklich geklingelt hat, das war da, wo er von Saucy Jacky redet.«
Ich nahm den Brief wieder zur Hand und las die ersten paar Zeilen noch einmal. Liebe Miss Bosston, ich höre immer, Saucy Jacky ist wieder da. Was hab ich gelacht.
»Wer ist Saucy Jacky?«, fragte ich, woraufhin zwei Dinge gleichzeitig geschahen. Mein Handy ließ mich mit einem Piepsen wissen, dass ich eine SMS bekommen hatte, und mir fiel wieder ein, wer Saucy Jacky war.
»Versuchen Sie mal, das zu googeln«, meinte Emma Boston gerade. »Da kriegen Sie Tausende von Einträgen. Saucy Jacky ist einer der Spitznamen von …«
»Jack the Ripper«, beendete ich den Satz für sie. »Er hat sich Saucy Jacky
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