Dunkle Gebete
Schreibtisch direkt hinter ihr.
»Gut, danke«, antwortete ich. Wenn ich mich ganz auf sie konzentrierte, würde ich nicht in Versuchung kommen, den Blick ein kleines Stück zu heben und den Mann gleich hinter ihr anzusehen.
»Gut geschlafen?«, erkundigte sich Joesbury. Wir achteten beide nicht auf ihn.
»Lacey, ich habe beantragt, dass Sie in eine andere Dienststelle versetzt werden, bis diese Ermittlung abgeschlossen ist«, sagte Tulloch. »Im Norden von London. Ich weiß …«
»Was?«, entfuhr es mir, ehe ich mich rasch verbesserte. »Entschuldigung, Ma’am, aber das ist doch bestimmt nicht …«
»Nennen Sie mich Dana«, unterbrach sie mich, »und ich fürchte, es ist nötig. Sie sind eine wichtige Zeugin, und wenn Sie gestern Abend der Falsche gesehen hat, dann möchte ich Sie aus der Schusslinie haben.«
»Aber ich kann nicht aus Southwark weg«, widersprach ich. »Die Zeugin, von der ich Ihnen gestern erzählt habe, die ist heute vorbeigekommen. Ich komme gerade an sie ran. Vielleicht kann ich sie sogar überreden, Anzeige zu erstatten.«
Ein winziges Funkeln erschien in ihren Augen. »Wir sorgen dafür, dass jemand den Fall übernimmt …«, setzte sie an.
»Aber sie vertraut mir.« Ich gab mir Mühe, nicht zu schnell zu sprechen. »Oder wenigstens fängt sie an, mir zu vertrauen. Sie hat unheimliche Angst. Wenn ich jetzt weggehe, denkt sie, ich habe sie hängen lassen.«
Tulloch seufzte. »Ich verstehe, wie Ihnen zumute ist, der Mord von gestern Abend geht allerdings vor.«
Ich sollte einfach einwilligen. Eigentlich war es egal, von welcher Dienststelle aus ich arbeitete. Außerdem war ich doch die Zurückhaltung in Person, ich machte keine Wellen. »Sie ist von fünf Kerlen vergewaltigt worden«, sagte ich. »Sie glaubt, die wollen sich als Nächstes an ihre zwölfjährige Schwester ranmachen. Ihre Mutter ist die Hälfte der Zeit so mit Drogen zugedröhnt, dass sie überhaupt nichts mitbekommt, und diese Mädchen haben niemanden, der auf sie aufpasst.«
Ihre grünen Augen sahen plötzlich sehr viel kälter aus. »Die Entscheidung steht, Flint«, sagte sie. »Finden Sie sich damit ab.« Sie stand auf und wandte sich ab. Ich sah zu, wie sie halb durchs Zimmer ging.
»Sekunde mal, Tully. Wieso kommt sie nicht hierher?«
Tulloch blieb stehen und drehte sich um. »Was?«
»Hol sie doch hierher«, schlug Joesbury über meinen Kopf hinweg vor. »Dann ist sie nahe genug an Southwark dran, um ihre laufenden Fälle weiter zu bearbeiten.«
Tulloch sah ihn an, als hätte er sie nicht mehr alle. »Ich kann sie nicht in die Nähe der Ermittlungen lassen«, wandte sie ein. »Es würde ihre Glaubwürdigkeit vor Gericht vollkommen unterminieren, wenn herauskommt, dass …«
»Wenn ein Detective aus deinem Team am Tatort eingetroffen wäre, bevor das Opfer gestorben ist, hättest du mit ihm jetzt genau dasselbe Problem«, gab Joesbury zu bedenken. »Halt sie auf Abstand, wenn’s sein muss«, fuhr er fort. »Aber es wäre doch bestimmt nicht verkehrt, sie hier zu haben. Und sei’s nur, um die Aufnahmen der Überwachungskameras durchzusehen.«
Tulloch sah ihn finster an. Ein Muskel unter ihrem linken Auge zuckte. »Das dauert höchstens ein paar Stunden.«
»Wenn du das mit der Rekonstruktion durchziehen willst, wird sie daran beteiligt sein.«
»Ja, aber …«
»Und du musst dafür sorgen, dass sie mit einem Traumatherapeuten reden kann, wenn du nicht willst, dass die Polizei wegen Körperverletzung verklagt wird. Ist doch viel einfacher, das hier zu arrangieren.«
Tulloch starrte ihn einen Augenblick an. »Mark, kann ich dich kurz sprechen?«, fragte sie dann.
Joesbury stand auf und schickte sich an, ihr zu folgen, ehe er stehen blieb und auf mich hinabblickte. Er ließ sich Zeit, musterte meine Schnürschuhe, die hellen Chinos, die ich immer ein wenig zu groß kaufe, und das weite weiße Hemd. Mein Haar war wie immer im Nacken zu einem Zopf geflochten. Ich trug meine Brille mit dem dunklen Gestell. Genauso sehe ich bei der Arbeit immer aus.
»Sie können wirklich toll aussehen, wenn Sie’s drauf anlegen«, bemerkte er schließlich.
»Mark!« Tullochs Geduld mit uns beiden war am Ende. Ohne ein weiteres Wort verließ er mit ihr den Raum.
Ich ließ den beiden zwei Minuten Vorsprung, dann folgte ich ihnen; ich verspürte das dringende Bedürfnis nach einer Tasse Kaffee. Also ging ich den Flur hinunter auf den Getränkeautomaten am anderen Ende zu. Kurz bevor ich ihn erreichte, blieb ich
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