Dunkle Gebete
Stadtzentrum von London auf; seine Lichter glitzerten wie Diamanten.
»Onkel Fred?«, fragte ich.
»Mums jüngerer Bruder«, sagte Joesbury. »Ist zur Wasserpolizei gegangen wie sein Vater, kurz nachdem er bei der Londoner Polizei angefangen hat. Wie stehen Sie zum Lloyd’s Building? Schön oder grauenvoll?«
Jenseits der Dächer strahlte eine längliche, futuristische Konstruktion aus Stahl und Glas violettes Licht in den Himmel. Ich hatte nicht viele Bauwerke gesehen, die einen mehr in ihren Bann zogen. »Grauenvoll«, log ich.
»Als ich klein war, war mein Großvater noch im Dienst«, sagte Joesbury. »Hat mich und meinen Bruder am Wochenende immer auf Patrouille mitgenommen.«
Die Lichter des Flusses wurden sowohl vom Regen reflektiert als auch vom Kabinenfenster verzerrt. Tiefes Azurblau schimmerte um die Spitze des Nat West Tower, und Tropfen von derselben Farbe schienen rings um uns herum zu fallen. Entlang der Uferbefestigung leuchtete Laternenschein wie eine Feuerkette. Einen Augenblick lang kam es mir vor, als wäre ich auf einem verwunschenen Schiff.
»Er hat uns immer Geschichten über den Fluss erzählt«, erzählte Joesbury weiter. »Hat ihn besser gekannt als jeder andere. Als er in Rente gegangen ist, hat er einen Job auf so einem Ausflugsdampfer gekriegt, als Touristenführer.«
Als die Tower Bridge wie eine kalte graue Festung vor uns aufragte, tauchte plötzlich ein Bild von zwei kleinen Jungen in meinem Kopf auf, die auf einem Flussboot Polizist spielten, und mir kam der Gedanke, dass es vor vierundzwanzig Stunden vielleicht ganz schön gewesen wäre, mit Joesbury allein zu sein und ihn von seiner Familie erzählen zu hören. In vierundzwanzig Stunden kann sich eine Menge ändern.
»Schauen Sie mal nach links«, wies er mich an.
»Wapping«, sagte ich. »Da sind Onkel Fred und seine Kollegen vermutlich stationiert.« Auf das Polizeirevier von Wapping war Samuel Coopers Leichnam geschafft worden, nachdem er aus dem Fluss gezogen worden war. Meiner wäre auch dort gelandet.
»Ja«, meinte Joesbury. »Und außerdem war da früher mal das Hinrichtungsdock, da haben sie Mörder und Piraten und alle möglichen Schurken aufgehängt. Piraten wurden an einen kurzen Strick gehängt, so dass sie langsam erstickt sind, und dann musste die Flut sie dreimal überspülen, bevor sie die Leichen abgenommen haben. Ich sag’s Ihnen, Polizeiarbeit ist auch nicht mehr das, was es mal war.«
Der Fluss hatte sich verändert. Jenseits der Tower Bridge wurde er zu einer kommerziellen Wasserstraße; die Gebäude, rußschwarz vor der Skyline, waren eher funktional als schön. Während wir weiterfuhren, schienen sämtliche Farben aus der Welt zu verschwinden.
»Das ist ja eine reizende Geschichte«, bemerkte ich.
Joesbury lachte. »Zu Granddads Zeiten gab’s sogenanntes schmutziges Geld.«
Die Uferbeleuchtungen, an denen wir jetzt vorbeikamen, waren greller und kälter als die Touristenlichter, die wir hinter uns gelassen hatten. Sie stachen wie Nadeln durch das dunkle Wasser. »Sie werden mir sagen, was das ist, ob ich’s nun hören will oder nicht, stimmt’s?«, fragte ich.
»Das war ein Zuschlag, den die Wasserpolizisten gekriegt haben, wenn sie eine Leiche aus dem Wasser geholt haben«, erklärte Joesbury. »Damals hat sich das in der Lohntüte durchaus bemerkbar gemacht, deswegen war es immer ein bisschen ein freudiges Ereignis, eine Wasserleiche zu finden.«
Vor nicht viel mehr als einer Woche wäre ich um Haaresbreite selbst zu einer Wasserleiche geworden. Wollte er mich nicht nur an der Flucht hindern, sondern mich auch noch fertigmachen?
»Wie Sie sich bestimmt vorstellen können, wurde das Ganze zu einer Art Wettstreit«, fuhr Joesbury fort. »Und erschwerend kam noch hinzu, dass man, wenn man gegen Ende der Schicht eine Leiche gefunden hat, vielleicht nicht genug Zeit hatte, sie bis nach Wapping runterzuschaffen.«
»Ich frage lieber gar nicht erst, was sie gemacht haben«, bemerkte ich.
Das war auch nicht nötig. Joesbury war richtig in Fahrt. »Also haben sie sie irgendwo versteckt, damit die nächste Schicht nicht die Extrakohle einsackt. Haben sie irgendwo vertäut, wo man sie nicht sah, und sie dann am nächsten Tag eingesammelt.«
Inzwischen kam es mir so vor, als fahre das Boot durch einen Schwarzweißfilm. Am Südufer schienen die Lichter kalt und weiß und durchdrangen die Düsternis um sie herum kaum; ihre Spiegelungen waren lediglich Tränen auf dem schwarzen Fluss.
»Ich hab
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