Dunkle Gebete
Steuerborddeck zugange und versuchten, den Schwimmer zu fassen zu bekommen. Joesbury hakte seine Rettungsleine los und ging um den Bug herum zu ihnen hinüber, so dass ich allein auf der Backbordseite zurückblieb. Ich konnte hören, wie Fred und seine Kollegen dem Mann im Wasser zuriefen, er solle ihre Hände ergreifen. Dann drehte ich mich um und suchte von Neuem den Fluss ab. Keine Spur von dem Mädchen, und es sah wirklich nicht gut für sie aus.
Plötzlich entdeckte ich keine fünfzehn Meter vom Boot entfernt eine weiße Hand, die sich rasch auf uns zubewegte. Die Flut hatte die junge Frau erfasst, trug sie stromaufwärts; binnen einer einzigen Sekunde würde sie an uns vorbeigetrieben sein.
»Sie ist hier!«, schrie ich. Der Kopf des Mädchens tauchte auf und ging wieder unter. »Ich sehe sie!«
Auf der anderen Seite des Bootes hörte ich fluchen. Joesburys Stimme. Dann brüllten noch mehr Männer Anweisungen. Das Boot setzte zurück und bewegte sich dann seitwärts, fort von dem Mädchen.
»Sir! Sergeant Wilson! Ich sehe sie!«
Oben im Cockpit schien der Mann am Ruder kurz zu mir herüberzublicken, doch es erforderte seine ganze Aufmerksamkeit, dicht genug bei dem Mann im Wasser zu bleiben.
Wieder tauchte das Mädchen auf. Sie mühte sich ab weiterzuschwimmen, doch bestimmt verließen sie bereits ihre Kräfte. Sie war schon nass und durchgefroren gewesen, bevor sie ins Wasser gefallen war. Mittlerweile dürften ihre inneren Organe Blut aus Armen und Beinen abziehen und es ihr noch schwerer machen, sich zu bewegen; gewiss war sie gefährlich nahe dran aufzugeben.
Ich konnte nichts tun, außer sie nicht aus den Augen zu lassen. Und hoffen, dass sie noch eine oder zwei Minuten länger durchhielt. Wieder ging sie unter. Ihre kleine Hand schien verzweifelt in die Luft zu greifen, bevor sie verschwand.
Sie war klein und dünn. Wahrscheinlich hatte sie schon seit einer ganzen Weile nichts mehr gegessen; sie würde geschwächt sein. Und die Panik würde sie zu hastig nach Luft schnappen lassen. Auch wenn ihr Kopf unter der Wasseroberfläche war. Ein großer Schluck Flusswasser, und sie würde in die Tiefe sinken.
Ich konnte nichts tun. Selbst wenn ich mich überwinden könnte, noch einmal in den Fluss zu springen, ich würde sie niemals erreichen, geschweige denn es zum Boot zurückschaffen.
Gleich neben mir lag ein zusammengerolltes Drahtseil, wahrscheinlich dafür gedacht, andere Boote in Schlepp zu nehmen oder schwere Gegenstände aus dem Wasser zu ziehen. Am freien Ende war ein großer Karabiner. Ohne eine wirklich klare Vorstellung davon, was ich eigentlich vorhatte, löste ich meine Rettungsleine von der Reling und hakte sie an dem Drahtseil fest. Dann zerrte ich rasch daran, so dass etwa drei Meter frei waren. Der Rest würde sich von selbst abspulen.
Noch immer ohne jeglichen Plan, schwang ich erst das eine und dann das andere Bein über die Reling. Eine schmale Holzleiste zog sich um den Rumpf des Bootes herum. Gerade breit genug, dass ich darauf stehen konnte.
Das Mädchen war auf meiner Höhe. Ich blickte in Augen, die ebenso schwarz zu sein schienen wie das Wasser. Ich würde gern sagen, dass ich gesprungen bin. Um ehrlich zu sein, ich glaube, das Boot neigte sich auf die Seite, und ich fiel hinein.
Hab ich dich, flüsterte das Wasser, das an meinen Ohren vorbeirauschte. Den Bruchteil einer Sekunde lang fühlte ich, wie die Panik aus der Tiefe nach mir griff wie eine riesige, muschelverkrustete Hand vom Grund des Flusses. Dann war ich wieder an der Oberfläche.
Denk nicht an den Fluss, denk an das Mädchen. Wo ist sie?
Ich war direkt vor ihr ins Wasser gefallen, inzwischen hätte sie gegen mich prallen müssen. Nichts zu sehen. Ein schwacher Schrei hinter mir. Strampelnd drehte ich mich um. Da war sie, wurde von der Gezeitenströmung mitgerissen, war bereits vor dem Boot. Wahrscheinlich blieben mir nur Sekunden, bis das Drahtseil, das mich mit dem Boot verband, seine volle Länge abgespult hatte. Ich holte tief Luft und schwamm los.
Gebrochene Rippen und Schwimmen? Ehe ich vier Züge gemacht hatte, war mir klar, dass ich das niemals lange würde durchhalten können, aber ich bin eine gute, starke Schwimmerin, und wenn ich will, bin ich schnell. Vier weitere Züge; sie war fast nahe genug, um sie zu berühren. Noch zwei. Ihre Hand packte meinen Arm und rutschte ab. Eine letzte, gewaltige Anstrengung, und sie klammerte sich an mich; und so winzig sie auch war, ihr Gewicht zog mich hinunter.
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