Dunkle Gebete
Messer steckte in meiner Tasche. Geradewegs in den Bauch und dann mit aller Kraft aufwärts ziehen. Er würde auf den Uferstreifen fallen, und in ein paar Stunden würde der Fluss ihn holen.
»Potamo … was?«, fragte ich, als ich auf den knirschenden, müllübersäten Sandstreifen trat. Ich konnte fühlen, wie meine Turnschuhe in etwas einsanken, von dem ich hoffte, dass es feuchter Sand war, jedoch ahnte, dass dem wahrscheinlich nicht so war.
»Angst vor Flüssen«, erklärte Joesbury, der mich auf ein paar dunkle Silhouetten zuzerrte, die ein paar Meter entfernt aufragten. Direkt vor uns und hoch über unseren Köpfen waren die vorstehenden, futuristischen Spitzen der Millennium Bridge. Sie glänzte in der Dunkelheit wie gehämmertes Silber. Unten am Ufer hatten wir den Lichtkreis der Straßenlaterne verlassen und nur den dünnen Strahl von Joesburys Taschenlampe, der uns den Weg wies. »Hab ich vor einer Stunde nachgeschlagen«, fuhr er fort.
Die dunklen Umrisse hatten bereits die Gestalt eines niedrigen Steges angenommen. Er sah nass, halb verrottet und alles andere als stabil aus, und ich würde auf gar keinen Fall auf dieses Ding treten. Joesbury sprang hinauf, und ich riss meine Hand los. Er drehte sich zu mir um.
»Mein Großvater war bei der Wasserpolizei«, sagte er. »Damals, Anfang der Fünfziger, als die Sicherheitsvorkehrungen noch nicht mal annähernd so streng waren wie jetzt. Da sind die Officers mit schöner Regelmäßigkeit baden gegangen.«
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Ganz gleich, worauf das hier hinauslief, es interessierte mich nicht.
»Die mussten ziemlich gute Schwimmer sein«, fuhr Joesbury fort, »aber auch so hatten fast alle von denen mächtig Potamodingsda, nachdem sie sie rausgefischt hatten. Also sind sie wieder mit ihnen rausgeschippert, in einem kleinen Boot mit niedrigem Dollbord, und zwar so bald, wie’s nur ging. So ähnlich, als wenn man jemanden wieder aufs Pferd setzt, nachdem er runtergefallen ist.«
Hier ging es also darum, mir einen Gefallen zu tun? »Ich weiß die gute Absicht durchaus zu schätzen«, erwiderte ich. »Aber ich würde das lieber ein andermal erledigen.«
»Das sagen alle«, gab Joesbury mit einem Lächeln zurück, das ich insgeheim allmählich sein fieses Grinsen nannte.
»Können wir bitte zum Wagen zurückgehen?«, versuchte ich es zum letzten Mal.
Joesbury neigte den Kopf in meine Richtung. »Halten Sie mich für jemanden, der leicht aufgibt?«
Bring’s hinter dich. Ich hielt mich dicht bei ihm, als wir den Steg hinuntergingen. Jenseits des Wassers erhob sich die geisterhafte Kuppel der St. Paul’s Cathedral über die umstehenden Gebäude.
»Dieser Steg verschwindet bei Flut völlig«, bemerkte Joesbury, gerade als mir klar wurde, dass wir über dem Wasser dahinschritten. »Die Wasserpolizei benutzt ihn bei Ebbe als Zugang zur South Bank.«
Ich sagte nichts darauf; ich konnte mich nicht entscheiden, ob es besser war, den Blick fest auf das gegenüberliegende Ufer zu richten und lediglich das Schimmern des Wassers am Rande meines Gesichtsfeldes wahrzunehmen oder auf meine Füße zu schauen und zwischen den Planken des Stegs hindurch den Dreck dahinstrudeln zu sehen. Um ehrlich zu sein, die Augen fest zuzumachen und mich an Joesbury zu klammern schien die beste Idee zu sein, aber ich bezweifelte, dass ich damit durchkommen würde.
Wir waren zwei Meter vom Ende des Stegs entfernt, als Joesbury stehen blieb. Inzwischen kam die Flut rasch herein, und der Wind, der den Fluss entlangfauchte, half ihr dabei. Joesbury legte mir die Hände auf die Schultern und schob mich auf seine linke Seite, wodurch er mich größtenteils vor dem Wind schützte. Das war eine durchaus galante Geste, aber es behagte mir wirklich nicht, wie der Steg dabei wackelte.
»Ich habe Dana vorgeschlagen, dass Sie morgen die Schulkinder befragen«, sagte er.
Wolken zogen über den Himmel, und das Schimmern des Flusses wechselte von Schwarz zu Violett; helle Kreise aus rubinrotem Licht tanzten auf dem Wasser. Ich blickte kurz auf. Die roten Lichter waren Spiegelungen von einem Kran gleich neben St. Paul’s.
»Was?«, fragte ich, als seine letzten Worte bei mir ankamen.
Er blickte stromabwärts, zur Southwark Bridge hinüber. »Sie sind die Jüngste im Team«, meinte er. »Sie würden am wenigsten bedrohlich wirken.«
»Eigentlich wollte ich morgen gar nicht zur Arbeit kommen«, wandte ich ein. »Ich habe DI Tulloch eine Nachricht hinterlassen.«
Joesbury
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