Dunkle Gebete
Mannes musste man ja bewundern.
»Und ihr war das recht?«
Joesbury wandte sich rasch zu mir um und grinste mich an. »Sie weiß genau, dass ich für Schreibtischkram nicht tauge, und das ist so ziemlich alles, was die anderen im Moment tun können«, meinte er. »Und sie veranstalten ein Treffen, morgen in der Schule. Für alle Mütter, die jetzigen und die von früher.«
»Was glauben Sie, was die Presse daraus macht?«, fragte ich nach kurzem Schweigen.
»Die hat sie auch eingeladen«, erwiderte Joesbury. »Sieht aus, als wäre die Schule der Schlüssel zu dem, was hier abgeht. Sie will, dass jede Frau, die irgendwie damit in Verbindung steht, in voller Alarmbereitschaft ist.«
Ich dachte kurz darüber nach. Das war eine gute Idee. Außerdem würde das bedeuten, dass das Spiel irgendwann morgen Vormittag definitiv aus sein würde. Mir blieb nichts anderes übrig, als heute Nacht zu verschwinden. Da gab es nur ein Riesenproblem. Das auf dem Fahrersitz.
Mein Rucksack lag auf meinem Schoß. Ich verließ mich darauf, dass die Musik sämtliche Geräusche übertönen würde, zog den Reißverschluss der vorderen Tasche auf und fand das Messer. Dann ließ ich die Hand in die Jackentasche gleiten. Als ich das tat, bog mein Riesenproblem in eine kurze Sackgasse ab und fuhr an den Straßenrand. Er schaltete zuerst den Motor und dann mit übertrieben erleichterter Miene auch die Stereoanlage aus. »Dafür will ich Extrapunkte«, verkündete er. »Ich habe Ihnen noch eine Jacke mitgebracht.«
Er war aus dem Wagen gestiegen, ehe ich fragen konnte, wo wir waren und wozu ich eine zweite Jacke brauchte. Da ich wusste, dass mir nicht viel anderes übrig blieb, als mitzuspielen, schob ich meinen Rucksack in den Fußraum und stieg ebenfalls aus.
Wir waren in Southwark, nicht weit von dort, wo ich bis vor ein paar Wochen gearbeitet hatte, und praktisch direkt am Flussufer. Gegenüber waren die Lichter und Gebäude der Stadt. Joesbury reichte mir eine große Öljacke, setzte sich eine Baseballkappe auf und marschierte los, aufs Wasser zu. Ich schlug die Kapuze der Regenjacke hoch und folgte ihm sehr langsam.
Der Fluss war nur wenige Meter entfernt; das schützende Geländer bestand lediglich aus zwei von vertikalen Streben gehaltenen Eisenstangen, und Joesbury wartete an einer sehr schmalen Steintreppe auf mich. Ich hatte das äußerst ungute Gefühl, dass sie zum Uferstreifen hinunterführte. Als ich näher kam, zog er eine Taschenlampe aus der Jackentasche und machte sich an den Abstieg. Auf der vierten Stufe rutschte sein Fuß seitwärts weg.
»Sie müssen sich vorsehen«, rief er über die Schulter. »Die Stufen sind total verdreckt. Halten Sie sich am Seil fest.«
Ein von Tang bedecktes Tau war an der Ufermauer festgeschraubt worden. Es sah genauso aus wie das, an das ich mich in jener Nacht geklammert hatte, als Sam Cooper ertrunken war. Als ich beinahe auch ertrunken wäre. Ich wollte es nicht anfassen. Und ich würde ganz sicher nicht zum Ufer hinuntergehen.
Noch immer hatte ich es nicht gewagt, in Richtung Fluss zu blicken, aber ich konnte ihn hören, hatte ihn gehört, sobald ich aus dem Auto gestiegen war, sogar durch den Regen hindurch. Das leise Plätschern des Wassers an Holzpfählen, jenes beharrliche Rauschen, das anscheinend immer in der Nähe von fließendem Wasser zu hören ist.
»Ich warte im Wagen«, rief ich, doch der Wind hatte aufgefrischt, und ich war mir nicht sicher, ob er es verstanden hatte.
»Das wäre kontraproduktiv.« Joesbury hatte sich auf der letzten Stufe umgedreht und schaute zu mir herauf.
»Mir ist nicht wohl so dicht am Wasser«, sagte ich. Ich hatte noch immer keinen Blick auf den Fluss geworfen, doch mir war, als pirsche er sich näher heran. Die Gezeiten würden bald wechseln. Wenn man genug Zeit in der Nähe eines den Gezeiten unterworfenen Wasserlaufs wie der Themse verbringt, lernt man, dieses ganz besondere Abfallen des Strömungsgeräusches zu hören, das er bei völliger Ebbe macht. Dieses Flüstern, das sagt: Ich komme wieder. Großer Gott, ich würde keinen Schritt weiter tun, sondern brav wieder ins Auto steigen, und zwar jetzt gleich .
»Ich weiß«, antwortete Joesbury, der eine Stufe höher geklettert war. »Das würde jedem so gehen. Aber Sie können nicht bei der Londoner Polizei arbeiten und potamophobisch sein. Kommen Sie schon.«
Er stieg noch ein paar Stufen herauf und packte meine Hand. Dann zog er mich die Treppe hinunter. Das war der richtige Moment. Das
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