Dunkle Gefährtin
warum bist du nach Los Angeles gekommen? Um in Hunters Nähe zu sein?«
»Die Stadt ist genauso gut wie jede andere, um herauszufinden, wer ich sein soll«, antwortete er achselzuckend.
»Du weißt, wer du sein sollst. Du bist ein großer böser Unsterblichenkrieger, den die Leute rufen, wenn es Ärger gibt.«
»Nein, der
war
ich einmal.« Seine Stimme klang ein bisschen kratzig, als wäre sie mit seiner Persönlichkeit gebrochen worden. »Aber wer bin ich jetzt?«
Die Frage war beunruhigend, weshalb Samantha sich vorsichtshalber betont locker gab. »Mit anderen Worten, du bist hergekommen, um zu dir selbst zu finden?«
»Kann sein.«
»Manche Leute finden zu sich, indem sie nach Tibet reisen, Berge besteigen und mit einem Guru meditieren.«
»Hört sich nach einer Menge Arbeit an.«
»Das war ein Witz.«
»Ich weiß.« Für einen Augenblick zeigte sich sein rares Lächeln, das jedoch gleich wieder verschwand. »Niemand muss sonst wohin reisen, um zu sich selbst zu finden. Der wirklich schwierige Teil ist ohnehin die Frage, was du machst, nachdem du in den Spiegel gesehen und die Narben akzeptiert hast.«
Sie war nicht sicher, ob er das mit den Narben buchstäblich meinte oder sich auf tiefere Wunden bezog. »Dann ist deine Hilfe bei diesen Vermisstenfällen eine Art Boxenstopp auf dem Weg zu dir selbst?«
Er sah sie vollkommen verständnislos an. Natürlich! Wie sollte ein Mann, der siebenhundert Jahre eingesperrt gewesen war, einen solchen Vergleich verstehen? »Ich meine …«
»Ich weiß, was du meinst«, fiel er ihr ins Wort. »Aber, nein, ich habe dadurch lediglich etwas zu tun.«
»Quatsch! Gestern Abend im Club hättest du sämtliche Dämonen mit einem Schlag auslöschen können – Merrick, seine Feinde, den Barkeeper, alle. Wenn du dich bloß beschäftigen wolltest, könntest du dich damit vergnügen, Dämonen und ihre Clubs zu zerlegen. Du hast nicht einmal Merrick getötet, obwohl du es ohne weiteres gekonnt hättest. Warum nicht?«
»Ich wollte mit ihm reden.«
»Schon wieder Quatsch! Du hättest ihn befragen und dann umbringen können. Aber das hast du nicht.«
»Ist die Mühe nicht wert«, sagte er ruhig.
Samantha atmete tief durch und stellte die Frage, die ihr eigentlich auf der Zunge brannte. »Letztes Jahr hättest du mich umbringen können. Ich war dir ausgeliefert, konnte nicht entkommen. Warum hast du es nicht getan?«
Immer noch blieb er unheimlich ruhig. »Du warst eine Unschuldige in dem Kampf. Meine Brüder haben dich benutzt, genau wie meine Mutter auch.«
Samantha erschauderte. Während der Schlacht hatte die Göttin Cerridwen, Tains Mutter, ihr für kurze Zeit eine unglaubliche Kraft verliehen, die ihr half, den Ewigen niederzuschlagen. Dieses Erlebnis bescherte Samantha bis heute Alpträume. »Ich habe gern geholfen. Ich war bereit, dich aufzuhalten – egal um welchen Preis.«
Tain lachte verbittert. »Das hättest du nie geschafft.«
»Macht nichts. Ich war gewillt, mein Leben dafür zu geben.«
Sie fühlte, dass er sie ansah, auch wenn sie weiter geradeaus auf die Straße blickte. »Warum?«, fragte er. »Du hättest nichts weiter tun müssen, als wegzulaufen und dich selbst zu retten.«
»Ich hatte nichts zu verlieren. Wäre es deinen Brüdern nicht gelungen, dich zu stoppen, was hätte mich dann noch erwartet?«
»Du hast ein Zuhause, eine Familie. Ich würde sagen, das ist einiges zu verlieren.«
»Was willst du mir eigentlich sagen? Dass es in meinem Interesse war, dich aufzuhalten? Ja, das war es. Und ich habe meinen Arsch riskiert. Außerdem hatten Amber und die anderen eine ziemlich überzeugende Art.«
»Ja, die Frauen meiner Brüder«, bestätigte Tain mit einem Anflug von Resignation. »Sehr überzeugende Frauen.«
»Ich mag sie.«
»Ich auch. Sie machen meine grüblerischen, arroganten Brüder ausgesprochen glücklich und zu vollkommen anderen Männern.«
»Sie sind nicht mehr einsam.« Samantha fuhr auf den Parkplatz ihres Apartmenthauses und stellte den Motor ab. »Allein zu sein ist hart. Aber ich vermute, das weißt du besser als ich.«
»Ach, Samantha, ich war
einsam
«, entgegnete Tain und öffnete seine Autotür, »aber nie allein.«
Er stieg aus dem Wagen und kam zu ihrer Seite, bevor sie ihn fragen konnte, was er meinte. Dann hielt er ihr die Tür auf.
»Tja, da wären wir«, sagte sie. »Wie kommst du jetzt nach Hause?«
»Ich bringe dich erst nach oben.«
»Das ist eine bewachte Wohnanlage. Nur die Bewohner und ihre Gäste
Weitere Kostenlose Bücher