Dunkle Gefährtin
Tains Kopf gezaubert, und mit ihm erschien das Bild von ihrem Gesicht – hohe Wangenknochen, dunkle Augen, roter lachender Mund.
Er brauchte sie wirklich, zumindest in ihrer Eigenschaft als Ermittlerin bei der paranormalen Polizei. Das hier war die Art Problem, die sie lösen konnte.
»Ich rufe jemanden, der dir hilft«, beruhigte er das Mädchen.
Oder wie immer der Jargon heute dafür lautete, um Samantha herzuholen. In den siebenhundert Jahren seiner Gefangenschaft hatte sich die Welt verändert. Fort waren die Häuser aus Natursteinen, die mit Torf oder Holz beheizt worden waren und in deren Zimmern es einzig in unmittelbarer Nähe des Feuers warm gewesen war. In dieser Stadt bestanden die Häuser aus Ziegelsteinen, dünnem Holz und glattem Putz, darin blieb es trotz der Sommerhitze kühl, und alle Zimmer wurden von Kunstlicht erhellt. Heute kochten die Leute ohne Feuer und wuschen ihr Geschirr hinterher in einem komplizierten Apparat mit Schläuchen und Röhren ab.
Vor siebenhundert Jahren hätte er einen Halbdämon mit seiner Magie herbeigerufen – jetzt nahm er ein Mobiltelefon aus der Manteltasche und klappte es auf. Leda hatte es ihm gegeben und Samanthas Nummer einprogrammiert.
Als sie es ihm überreichte, hatte Leda grinsend erklärt: »Wenigstens einer von euch Unsterblichen sollte mit einem Handy umgehen können. Behalte es bei dir, und melde dich ab und zu!«
Tain mochte das enervierende kleine Gerät nicht, aber er wollte seiner neuen Schwägerin einen Gefallen tun. Nach ein paar Versuchen hatte er endlich heraus, welche Knöpfe er drücken musste, und kurz darauf hörte er Samantha, die sich atemlos meldete. »Hallo?«
»Samantha«, sagte er, während er eine Hand auf die Schulter des weinenden Mädchens legte, »ich brauche dich.«
Samantha lenkte ihren Wagen schräg zum Eingang der Seitengasse, so dass die Scheinwerfer den schmalen Gang beleuchteten.
Sie war auf dem Heimweg gewesen, als ihr Handy klingelte. Nachdem sie auf einen 7-Eleven-Parkplatz eingebogen war, nahm sie das Gespräch an. Bei seinen Worten
Ich brauche dich
verhielt sich ihr Herz seltsam, und sie malte sich aus, wie er dasselbe im Dunkeln zu ihr sagte, neben ihr im Bett, seine
Finger in ihrem Haar.
Ich bin bekloppt
, dachte sie, während sie zu der Gasse fuhr, zu der er sie dirigierte.
Er hasst Dämonen. Und ich reagiere bloß so dämlich, weil er mich mit seiner Heilkraft berührt hat, sonst nichts.
Eine Hand an ihrer Waffe, eilte sie durch die Gasse dorthin, wo Tain auf dem schmutzigen Pflaster hockte. Vor ihm saß eine junge Frau, die in seinen langen Mantel gehüllt war. Samantha überkam ein Anflug von Eifersucht. Sie wollte diejenige sein, die in dem von ihm gewärmten Mantel steckte und die er so aufmerksam betrachtete.
Das Gefühl verflüchtigte sich allerdings, sobald sie die junge Frau genauer sah. Sie war eine Dämonin und ihr wunderschönes Gesicht von verkrusteten Schnittwunden übersät. Ihr Haar war sehr grob abgeschnitten worden und reichte nicht einmal mehr über ihre Ohren.
Samantha kniete sich neben Tain. Sie sprach sehr ruhig, um die junge Frau nicht zu erschrecken. »Was ist mit dir passiert?«
»Ihr Name ist Nadia«, sagte Tain. »Jedenfalls hat sie mir das gesagt.«
Nadia fing an zu weinen, und ihre Tränen hinterließen helle Spuren auf ihrem schmutzigen Gesicht. »Ich weiß nicht, wer sie waren.«
Tain erklärte kurz, wie er einem Vampir gefolgt war und sie fand. »Sie redet nicht mit mir.«
Das wunderte Samantha. Hätte Tain
ihr
den Mantel über die Schultern gehängt und sie getröstet, würde sie ihm bereits ihr ganzes Herz ausgeschüttet haben.
Sie holte ihre Dienstmarke und ihren Ausweis hervor und zeigte sie dem Mädchen. »Ich bin von der paranormalen Polizei. Du musst mir erzählen, was passiert ist!«
»Nicht hier«, erwiderte Nadia mit heiserer Stimme. »Sie entführten mich … und Bev. Dann haben sie Bev umgebracht und mich weggeschickt, damit ich es nach Hause bringe.«
»
Es?
« Samantha sah Tain fragend an, der nur den Kopf schüttelte. »Was nach Hause bringen, Nadia?«
»Ich hab’s da hinten gelassen.« Sie zeigte mit dem Finger ein Stück weiter die Gasse hinunter.
Samantha wollte aufstehen, doch Tain hielt sie zurück. »Nein, lass mich nachsehen!«
Er bewegte sich mit großen Schritte durch die von Unrat übersäte Gasse, bis er einige Meter weiter stehen blieb. Für einen Moment sah er regungslos aufs Pflaster, dann bückte er sich und hob ein Bündel
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