Dunkle Halunken: Roman (German Edition)
seinem inneren Auge und zeigten ihm höchst unangenehme Szenen. Stieg einer wie der Ausländer in die Kanalisation herab? Vielleicht bezahlte ihm jemand genügend Geld dafür. Dodgers Phantasie malte weitere Bilder, und fast regte sich Panik in ihm. Alle wussten, dass er mit der Gruppe einen Ausflug in die Kanalisation unternommen hatte. Wen kannte der Ausländer? Wie schnell sprachen sich Neuigkeiten herum? Und wie schlau musste jemand wie der Ausländer sein, wenn er trotz der vielen Feinde in vielen Ländern noch lebte? Und wie dumm war Dodger, der gute alte Dodger, wenn er glaubte, mit einem Achselzucken über die Gefahr hinweggehen zu können? Und wenn es doch jemand anders war?
Wenigstens wusste er Simplicity in Sicherheit. Eigentlich wäre es das Vernünftigste gewesen, die Kanalisation ebenfalls so schnell wie möglich zu verlassen, bevor der Fremde ihn erreichte, doch Dodger dachte mit ungewöhnlich heftig pochendem Herzen über seine begrenzten Möglichkeiten nach. Er konnte den Abwasserkanal durch einen anderen, etwas weiter entfernten Gully verlassen, aber es dauerte eine Weile, ihn zu erreichen – und was mochte in dieser Zeit alles geschehen? Und wenn er bei der nächsten Gelegenheit nach oben kletterte, so wäre der Fremde – und plötzlich zweifelte er nicht mehr daran, dass es der Ausländer war – dicht hinter ihm.
Das letzte Sonnenlicht schwand. Dies ist meine Welt, dachte Dodger. Ich kenne hier jeden einzelnen Ziegelstein. Ich kenne alle Stellen, wo ein falscher Schritt genügt, um bis zur Hüfte in stinkendem Schlamm zu versinken. Er dachte: Hier bin ich zu Hause. Vielleicht kann ich dies zu meinem Vorteil nutzen. Lass dir einen neuen Plan einfallen, Dodger! Erreich das Ziel auf einem anderen Weg! Julius Cäsar fiel ihm ein, wie er angeblich auf einer Latrine saß (ein Bild, das er so schnell nicht vergäße), und Dodger dachte: Er war ein Krieger, nicht wahr? Ein Bursche, dem kaum beizukommen war. Er flüsterte: »Da hast du’s!« Und laut sprach er in die Düsternis: »Komm her! Hier bin ich, Mister. Vielleicht möchtest du, dass ich dir die Sehenswürdigkeiten zeige.«
Er senkte den Blick und stellte fest, dass eindeutig jemand auf dem Weg war, denn die Ratten liefen geradewegs auf ihn zu, um dem Fremden hinter ihnen zu entkommen. Dodger stand an der Tunnelwand, halb in einer kleinen Mauernische, wo sich mehrere der alten Steine aus der Wand gelöst hatten. Es war eine Stelle, mit der er liebevolle Erinnerungen verband, denn hier hatte er einmal zwei Viertelpennys und einen der alten Groats gefunden, die man heutzutage kaum mehr sah.
Die Ratten liefen und kletterten an ihm vorbei, als wäre er überhaupt nicht da, und Dodger dachte: Sie sehen mich fast jeden Tag. Er hatte sie nie gejagt, nie nach ihnen getreten und nicht einmal versucht, sie mit dem Fuß aus dem Weg zu schieben. Er ließ sie in Ruhe, und deshalb ließen sie ihn in Ruhe. Außerdem wusste er, dass er bestimmt nicht mit dem Wohlwollen der Lady rechnen konnte, wenn er ihren kleinen Untertanen gegenüber gemein war. Opa hatte keinen Zweifel daran gelassen. »Wenn du auf eine Ratte trittst, so trittst du auf das Gewand der Lady«, hatte er gesagt, und Dodger flüsterte nun in die Dunkelheit: »Lady, ich bin’s noch einmal, Dodger. Ich könnte jetzt etwas von dem bereits erwähnten Glück gebrauchen, wenn es sich irgendwie machen lässt. Danke im Voraus, Dodger.«
Und weiter vorn in der Finsternis erklang der schmerzerfüllte Schrei einer Ratte. Sie konnten recht laut sterben, die Ratten, und Dodger hörte ein Quieken, und dann liefen noch mehr Ratten an ihm vorbei.
Und plötzlich zeichneten sich die Umrisse des Fremden in der Düsternis ab, wie er anerkennenswert leise durch den Abwasserkanal schlich, vorbei an Dodger in seinem stinkenden Versteck, denn Dodger war ganz klar unsichtbar: Ihm hafteten die gleiche Farbe und der gleiche Gestank wie der Tunnel an. Die Ratten versuchten auch über den Eindringling hinwegzulaufen, aber er schlug mit etwas nach ihnen – Dodger konnte den Gegenstand nicht genau erkennen –, und die Ratten schrien, zweifellos laut genug, damit die Lady sie hörte.
In der Hand hielt Dodger – ja! – Sweeney Todds Rasiermesser, das er weniger als Waffe mitgebracht hatte, sondern als Talisman: ein Geschenk des Schicksals, das sein Leben verändert hatte, so wie es auch Sweeney Todds Leben verändert hatte. Wie hätte er es an einem solchen Tag zurücklassen können?
In der Finsternis
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