Dunkle Halunken: Roman (German Edition)
der Stunde, wieder einmal, und es wäre schade, alles mit unbedachten Worten zu zerstören.« Sein Kopf kam noch näher, und er sprach noch leiser. »Hör nur, wie sie rufen und Geld für den Helden sammeln. Ich helfe dir jetzt vorsichtig auf die Beine und bringe dich zum prächtigen Büro des Chronicle, wo ich einen Artikel über dich schreiben werde, wie er vermutlich seit Cäsars Zeiten nicht mehr geschrieben wurde.«
Charlie lächelte. Wie ein Fuchs, fand Dodger in dieser lauten, sich drehenden und plötzlich sehr verwirrenden Welt. Dann schob sich Charlie etwas näher und sagte: »Übrigens, mein kühner Freund, habe ich gerade erfahren, dass Mister Sweeney Todd mit seinem Rasiermesser die Kehlen von sechs Männern aufgeschlitzt hat, die in dieser Woche zu ihm gekommen waren, um sich rasieren und die Haare schneiden zu lassen. Ohne deine fast magische Reaktion wärst du das Opfer Nummer sieben gewesen. Und dies war meine beste Hose!« Die letzten Worte wurden gerufen – besser gesagt: geschrien –, denn Dodger hatte sein Frühstück auf Charlies Beinkleider verteilt.
Etwas später saß Dodger am langen Tisch im Büro des Chronicle- Herausgebers und wünschte sich, endlich unterwegs zu sein, um Simplicity zu besuchen. Ihm gegenüber saß Charlie, der nicht mehr so erzürnt wirkte, denn als vermögender Mann hatte er sich eine neue Hose besorgt und die andere weggegeben, damit sie gereinigt wurde. Die Innenwand des Büros war nur halbhoch, und die Vorbeigehenden konnten sehen, was auf dieser Seite vor sich ging. Es kamen alle vorbei, und sie blieben auch stehen. Jeder Schreiber und jeder Drucker fand irgendeinen Vorwand, um einen Blick auf den jungen Mann zu werfen, der dem magischen Straßentelegrafen zufolge den schrecklichen Teufelsfriseur der Fleet Street überwältigt hatte.
Allmählich ärgerte sich Dodger. »Ich hab ihn kaum berührt, ihn nur ein bisschen nach unten gedrückt und ihm das Messer abgenommen, das war alles. Ehrlich! Es war, als hätte er Opium genommen oder so, denn er sah tote Soldaten, tote Männer, die sich näherten, ich schwöre, und er sprach mit ihnen, als täte es ihm leid, dass er sie nicht retten konnte. Das ist die reine Wahrheit, Mister Charlie, ich schwöre, und zum Schluss hab ich die toten Soldaten ebenfalls gesehen. In Fetzen gerissene Männer. Und schlimmer noch: halb in Fetzen gerissene Männer, die schrien. Er ist kein Teufel, Sir, obwohl ich glaube, dass er vielleicht die Hölle gesehen hat, und ich bin kein Held, Sir, wirklich nicht. Er war nicht böse, sondern verrückt und traurig, seinem Wahnsinn im Kopf ausgeliefert. Das ist alles, Sir, im Großen und Ganzen, Sir. Und es ist die Wahrheit, die Sie aufschreiben sollten, Sir. Ich meine, ich bin kein Held, weil ich nicht glaube, dass er ein Schurke ist, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Es folgte eine Stille in dem sauberen kleinen Raum, die nur von Charlies Blick durchdrungen wurde. Eine Uhr tickte, und Dodger wusste, ohne hinzusehen, dass die Angestellten ihm, dem bescheidenen und widerstrebenden Helden der Stunde, noch immer Blicke zuwarfen. Charlie starrte ihn an und drehte dabei seinen Stift hin und her. Schließlich seufzte er und sagte: »Mein lieber Dodger, die Wahrheit ist keine eindeutige Tatsache, sondern sie wird konstruiert, vergleichbar mit dem Himmel. Wir Journalisten, die wir darüber schreiben, müssen die Wahrheit destillieren, damit die ganz und gar nicht gottähnlichen Menschen sie verstehen. In diesem Sinn sind alle Menschen Journalisten, denn sie schreiben in ihren Köpfen, was sie hören und sehen, ohne darauf zu achten, dass ihr Gegenüber das Geschehen vielleicht ganz anders sieht. Das sind Heil und Verdammnis des Journalismus – die Erkenntnis, dass es fast immer verschiedene Perspektiven gibt, aus denen man Ereignisse betrachten kann.«
Charlie drehte seinen Stift noch etwas schneller, schien sich in seiner Haut nicht ganz wohlzufühlen und fuhr fort: »Wer bist du eigentlich, Dodger? Ein tapferer junger Mann, aufgeweckt und schneidig und offenbar ohne Furcht? Oder vielleicht, wie ich vermute, ein Straßenjunge mit reichlich Bauernschläue und dem Glück von Beelzebub höchstpersönlich? Ich nehme an, dass du beides bist und auch alle Schattierungen dazwischen aufweist. Und Mister Todd? Er ist ein wahrhaftiger Teufel – die sechs Toten in seinem Keller weisen deutlich darauf hin. Oder ist er vielleicht ein Opfer, wie du zu glauben scheinst? Wo liegt die Wahrheit?, könntest du
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