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Dunkle Materie

Dunkle Materie

Titel: Dunkle Materie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aner Shalev
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Brief.
    >Dein letzter Brief hat mich glücklich und traurig gemacht.
    >Glücklich, weil du so schön schreibst, und mir so viele De-
    >tails lieferst, um die ich noch nicht einmal gebeten habe.
    >Und traurig, weil ich, warum weiß ich nicht, eine gewisse
    >Entfremdung spüre. Vielleicht schaffen ja schöne, stimmige
    >und geschliffene Briefe manchmal ein Gefühl der Distanz.
    >Als handle es sich um etwas, was nicht ausdrücklich für dich
    >bestimmt ist. Als würden diese Briefe, eines Tages, wenn du
    >eine berühmte Astrophysikerin bist, in der Gesamtausgabe
    >deiner Briefe erscheinen, und Menschen wie ich, die gerne
    >Briefe und Tagebücher lesen, werden sie lesen wie jetzt die
    >Tagebücher von George Sand. Ich möchte dich nicht wie die
    >Tagebücher von George Sand lesen (ich weine beinah).
    >Es ist witzig, wie wir die Rollen getauscht haben. Du mit dei-
    >nen Briefen, die förmlich explodieren mit Details, sogar se-
    >xuellen Anspielungen, zum Beispiel Liebe machen in einem
    >Zimmer voller Spiegel (hast du das mal gemacht? Und hin-
    >geschaut?), und ich mit meinen abstrakten Briefen und mei-
    >nen Träumen von gemeinsamen Nächten, die wir haben
    >werden oder nicht.
    >
    >Nein, ich bin nicht eifersüchtig. Aber ich dachte, du würdest
    >mir alles erzählen. Dass du mich nicht belügen würdest (auf
    >deine Art der Heimlichtuerei). Dass du mehr über dein
    >Treffen mit Sascha schreiben würdest und wie es dich be-
    >einflusst hat. Und auch über euer Abendessen, das doch
    >schon stattgefunden hat. Soll ich dein Schweigen genießen?
    >Das ist vielleicht der Hauptgrund, warum dein Brief mich
    >traurig gemacht hat: Er war voller Einzelheiten, die es fast
    >geschafft haben, vor mir zu verheimlichen, was zwischen dir
    >und Sascha wirklich geschehen ist.
    >
    >Und ich dachte, Moment, so schnell gehen wir zum Ver-
    >steckspielen über? Zu literarischen Briefen, die an nieman-
    >den gerichtet sind? Wie kommt es, dass all deine Geschich-
    >ten über Sascha vor nur einer oder zwei Wochen plötzlich
    >aufhören, ausgerechnet jetzt, da du ihn getroffen hast? Was
    >soll ich daraus schließen?
    >Meine Inkognito-Tage im Konsulat sind beendet. Jetzt ha-
    >ben alle gemerkt, dass ich wieder da bin. Der Konsul lud
    >mich gleich am Morgen feierlich in sein Büro ein, zu einem
    >langen Gespräch über nichts. Ich mag ihn eigentlich. Dann
    >ging ich runter in die Second Avenue, bestellte einen star-
    >ken Espresso, nahm ihn mit in mein Zimmer im dreizehn-
    >ten Stock, setzte mich vor den Computer und schaute zum
    >Fenster hinaus. New York! Mit einem Schluck trank ich den
    >Espresso aus und fing an, diesen Brief zu schreiben.
    >
    >Ich liebe dich.
    >
    >Adam
    Â 
    Â 
    Freitag, 22. Oktober, 11:41
Betreff: Muse
    Adam,
ja, dein letzter Brief hat mich wie ein Faustschlag getroffen.
    Ich dachte über deinen Wunsch nach, dass ich dir immer alles erzähle. Dass ich nicht eine Minute meines Lebens vor dir verheimlichen soll. Ich habe dir eine lange Mail geschrieben. Gerade habe ich sie beendet. Ich habe sie wieder gelesen. Sie klingt so grausam, dass ich sie nicht schicken kann. Deshalb habe ich für diesen Brief nur den Betreff abgeschrieben.
    Â 
    Ich schicke dir diese lange Mail nicht, es sei denn, du bittest ausdrücklich darum. Aber Adam, vielleicht wäre es besser, unsere Stimmungen nicht völlig bloßzulegen, sie ändern sich ohnehin ständig. So lebst du doch mit Ruth, nicht wahr? Das ist deine Art zu leben. Ich bin noch immer in einer schrecklichen Stimmung.
    Â 
    Ich habe Angst, dich zu verletzen. Ich möchte dich nicht verlieren, nur weil sich irgendein grausamer Dämon in mir breitgemacht hat.
    Â 
    Vielleicht bin ich einfach nervös, weil mein Vortrag noch nicht fertig ist. Anstatt ihn vorzubereiten, schreibe ich dir Mails und versende sie nicht einmal. Ich brauche so lange, um ein paar farbige Folien zu malen. Für dich ist ein Publikum von zehn Leuten nur ein Witz, oder? Du bist bestimmt daran gewöhnt, vor hunderten von Menschen zu sprechen. Aber diese Menschen sind mir ziemlich wichtig. Zum Beispiel Gabi, der vielleicht mein Tutor wird und dessen Hilfe ich brauche, um das Stipendium zu bekommen. Er hat versprochen, zu meinem Vortrag zu kommen. Und da gibt es einen älteren Professor, der mich die ganze Zeit mit seinen Fragen unterbricht. Er lässt nicht locker, bis er alles verstanden hat. Bei meinem Vortrag im letzten Jahr

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