Dunkle Reise
mit versteinertem Gesicht zu ihm hinab. »Dem jede Ehre verweigert wird, die nach altem Brauch den Toten zusteht. Ihr Fürst hat ein eigentümliches Verständnis von Gerechtigkeit. Es ist nicht das unsrige. Sogar die Verräterin Merceda erfuhr die Begräbnisriten unseres Ordens und wurde nach seiner Regel eingeäschert.« Zustimmendes Gemurmel ging durch den Saal.
Barras blickte zornig zu ihr auf. Der letzte Rest des Anscheins derber Jovialität und rechtschaffenen Pflichtbewusstseins gegen seinen Herrn fiel von ihm ab. »Sie haben die Anklage gehört«, erklärte er. »Sie betrifft Kapitalverbrechen und kann von einer Versammlung wie dieser nicht beiseite geschoben werden.« Er blickte in die Runde, sah ihre Gesichter, erkannte die Entscheidung und schlug alle Vorsicht in den Wind. Seine Stimme hob sich und er schlug einen Tonfall kalter Drohung an, die nicht mehr allein an die Priorin gerichtet war. »Sie sollten wissen, dass es bei aller Freiheit, die diesem Orden bisher gestattet wurde, nicht schicklich und angemessen ist, dass Länder von solch einer Körperschaft regiert werden, die allein aus Frauen besteht. Wenn Sie weiterhin eine lokale Herrschaft ausüben wollen, tun Sie gut daran, Ihrem Fürsten zu gehorchen, dessen Stimme ich bin. Wenn Sie sich weigern, werden Sie nicht die ersten sein, die die Erfahrung machen müssen, dass sein Gedächtnis und sein Arm beide lang sind.«
Darauf folgte Stille, dann ein langsam anschwellendes empörtes Gemurmel. Barras hielt ihm stand, wie er auch dem kalten Blick der Priorin standhielt. Sie nickte langsam, dann hob sie den Blick und ließ ihn in die Runde ihrer Schwestern gehen. Das Gemurmel verstummte.
»Ich verstehe. Unser Fürst. Und das ist Ihr letztes Wort?«
Barras nickte einmal. »Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.«
Sie erhob sich von ihrem Platz. »Dann bleibt die Frage der Freistatt zu erwägen. Ich erinnere euch alle, Schwestern, dass Freistatt nicht missbräuchlich gewährt werden darf. Sie kann nicht gewährt werden, wenn Verbrechen gegen unsere Gesetze vorliegen, die die Gesetze der Göttin sind. Wenn es Grund zu der Annahme gibt, dass die Beklagten diese Gesetze ebenso verletzt haben wie ausländische Gesetze in anderen Ländern, dann dürfen wir ihnen keine Freiheit von Verfolgung bieten. Eine Freistatt kann nur im Falle ungerechter Verfolgung gewährt werden. Das ist unser Gesetz, wie es die Göttin verordnete.«
Ihr Blick ruhte auf uns. Die Schwestern warteten auf die Abstimmung, und ich wusste, wie diese ausfallen würde. Wir waren in Sicherheit. Ich blickte zu ihr auf und konnte mir nicht vorstellen, dass sie vor der unverhüllten Drohung klein beigeben würde.
Sie nickte Silvus zu. »Wir haben die Stimme des Fürsten vom Stromland gehört. Haben Sie noch etwas zu ihrer Verteidigung zu sagen?«
Silvus blickte zu Boden. Er schüttelte den Kopf.
»Dann werden wir zur Abstimmung schreiten…«
Auch ich blickte jetzt zu Boden, aber wenn ich die Priorin auch nicht ansehen konnte, so konnte ich doch zu ihr sprechen. »Warten Sie«, sagte ich, und es kam so klar und durchdringend wie eine Florettklinge heraus, die ihr das Wort abschnitt.
Stille. Ich blickte auf. Die Priorin beobachtete mich. Es gab kein Zurück mehr.
»Sie haben noch etwas zu Ihrer Verteidigung zu sagen?«, fragte sie.
Ich nickte und schlug den Blick nieder. Die Worte wollten mir nicht über die Lippen kommen. Ich überlegte, wie ich es anfangen könnte. »Nicht zu unserer Verteidigung«, murmelte ich.
»Nein«, sagte Arienne mit klarer Stimme. »Im Gegenteil. Wir wünschen ein Geständnis abzulegen. Wir töteten einen Mann – Meister Grames -, und wir bedienten uns des Dunkels, um es zu tun. Er kam so ums Leben…«
Einer nach dem anderen berichteten wir alles, ohne etwas zu beschönigen oder zurückzuhalten. Wie Grames uns getäuscht und wir ihn dafür getötet hatten. Wie meine Wut und ihre Kraft sich zur Vergeltung verbanden und sich in verwerflicher Weise des Dunkels bedienten. Wir erzählten alles bis zum Ende, ohne etwas anderes als die Bodenfliesen zu sehen, ohne etwas anderes als die Stimmen der Erinnerung zu hören. Wir fühlten nichts als Trauer und Bedauern, und als Arienne sprach, hob sie die Hand zu mir, und wir sahen ihnen Hand in Hand in die Augen, als die elende Geschichte erzählt war.
Es war getan. Ich war außer Stande, Silvus anzusehen. Auch ihn hatte ich mit uns selbst verurteilt. Ich schloss einen Moment lang die Augen und lauschte in die Stille. Unser
Weitere Kostenlose Bücher