Dunkle Schatten (German Edition)
auflegen und nochmals anrufen.
Kokoschansky versucht sein Glück, und tatsächlich ist ihm Fortuna hold.
Kaum eine Minute später öffnet sich wie von Geisterhand ein über und über mit
Graffitis beschmiertes, verrostetes Eisentor, und ein kurzer, betonierter, hell
erleuchteter Flur zeigt sich dem Besucher. Videokameras überwachen jeden
Zentimeter. Eine weitere schwere Stahltüre gibt mit leisem Summton den Weg
frei, und im Türrahmen lehnt ein junger Typ, ungefähr dreißig mit extrem kurzen
Haaren. Aus dem Innern heraus wummern Bässe und der Sound von Drums.
»He, wo sind deine Federn 14 geblieben?« Als Kokoschansky
ihn zuletzt gesehen hatte, trug er lange Dreadlocks bis fast an die Hüften.
»Tja, Koko, langsam werde ich auch seriös, und meine Kunden wünschen sich
ein unauffälliges Erscheinungsbild.«
»Dein Musikgeschmack hat sich nicht verändert.« Kokoschansky greift sich
mit schmerzverzerrtem Gesicht an die Ohren.
»Ja, ja, hab schon verstanden.« Der junge Mann schnappt sich eine
Fernbedienung und fährt die Lautstärke der hochwertigen Stereoanlage auf ein
Minimum herunter. »Passt es so für deine Altherrenohren?«
»Drecksack«, grinst Kokoschansky. »Und wie läuft das Geschäft?«
»Kann nicht klagen«, antwortet Mitnick, »sieh dich um. Das Feinste vom
Feinen.«
Mitnick ist sein selbst gewähltes Pseudonym, und nur die wenigsten Leute
kennen seine richtige Identität. Er hat diesen Namen ausgesucht, um seinem
großen Idol, dem amerikanischen Hackerkönig Kevin Mitnick, Reverenz zu
erweisen.
Der österreichische Mitnick, versteckt arbeitend auf dem abgelegenen
Industriegelände am Wiener Stadtrand in seinem High-Tech-Studio, ausgerüstet
mit sündteuren Gerätschaften der neuesten Generationen, ist mit Computern und
allerlei Elektronik aufgewachsen, kennt nichts anderes. Schon als Schüler
unternahm er seine ersten Hackergehversuche, brach in damals noch völlig
ungeschützte Firmendatenbanken ein, machte sich einen Spaß daraus.
Nach der Matura begann er ein Informatikstudium, lebte gleichsam vor und
mit dem PC und interessierte sich für größere Projekte, indem er virtuell
Banken knackte, sich in den Computern diverser Ministerien und Ämter
herumtrieb, sich jedoch nie bereicherte oder jemanden betrog. Es war für ihn
ein Kick, um sich selbst zu beweisen: So abschotten könnt ihr eure Daten gar
nicht, dass ich nicht eure Codes knacke.
Bis ihm eine große Bank auf die Schliche kam, aber auf eine Anzeige
verzichtete, da das Institut viel zu große Angst hatte, Kunden zu verlieren,
sollten die mangelhaften Sicherheitsvorkehrungen publik werden. Daher schlug
man ihm einen Deal vor. Ab sofort nicht mehr im Verborgenen, sondern offiziell
und noch dazu sehr gut dotiert als IT-Sicherheitsberater zu arbeiten, um die
Systeme zu warten und laufend zu verbessern. Für Mitnick die Basis seiner
weiteren Karriere.
»Na, was ist es diesmal?«, feixt Mitnick. »Eine vorsintflutliche
Festplatte, die ich wiederherstellen soll oder etwas Ähnliches in der Art?«
Wortlos fischt Kokoschansky das Kokainpaket unter seiner Jacke hervor und
legt es auf einen mit Kabeln und Steckverbindungen überfüllten Tisch. Mitnick
ist nicht besonders beeindruckt.
»Die Fronten gewechselt? Kleiner Nebenverdienst? Danke, ich habe mit dem
Zeug schon lange nichts mehr am Hut.«
»Blödsinn!«, fährt der Journalist ihn in einem etwas raueren Ton an.
»Kannst du den Dreck eine Zeit lang für mich aufbewahren? Der Scheiß wurde mir
untergejubelt.«
Mitnick kratzt sich am Kopf und zieht eine verdrießliche Miene.
»Und werde ich da in etwas reingezogen?«
»Nein! Kein Schwein weiß doch, wo du logierst.«
»Das hatten wir doch schon mal, und dann war der Teufel los.« Wieder eine
Nachdenkpause. »Klar mache ich das, weil ich eben verrückt bin und die Gefahr
liebe.«
»Ich brauche den Koks als Beweismittel, wenn es so weit ist.«
»Wenn was so weit ist …«
»Ich weiß es noch nicht.«
»Klingt spannend. Und du weißt, für dich ist immer die Tür offen, wenn
die Kacke wieder einmal am Dampfen ist.«
Mittwoch, 15. September 2010, 5.15 Uhr
Dauerklingeln und permanentes Klopfen an Kokoschanskys Wohnungstüre
verheißen nichts Gutes. Lena schreckt zuerst aus dem Schlaf hoch, sieht auf den
Digitalwecker, sitzt kerzengerade im Bett und reibt sich die Augen. Im
Gegensatz zu ihm, der über einen gesegneten Schlaf verfügt. Wahrscheinlich
müsste erst das Haus explodieren, dass er aus den Federn fliegt.
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