Dunkle Schwinge Bd. 2 - Der dunkle Pfad
Die meisten Leute auf der Station wissen gar nicht, dass ein Austausch stattgefunden hat.«
Sie machte eine entschlossene Miene: »Angenommen, wir treiben das noch ein Stück weiter – angenommen, wir versuchen gar nicht, uns zu tarnen, sondern gehen als wir selbst hinein. Nur ein paar Individuen würden sich davon nicht in Erstaunen versetzen lassen, und die würden wir ohnehin nicht mehr überraschen können.«
»Sicherlich werden sie früher oder später unsere Gegenwart wahrnehmen.«
»Ja, das sehe ich auch so.« Wieder sah sie nach draußen. »Aber mit etwas Glück können wir vor ihnen mein Büro erreichen.«
»Ihr Büro?«
»Privileg des Kommandanten«, sagte sie. »Ich erkläre es Ihnen, wenn wir dort sind.«
Ch’k’te schwieg, da er keine weiteren Fragen stellen wollte.
»Sechs Individuen, Ch’k’te. Wir müssen uns vielleicht nur über sechs Individuen Gedanken machen, von denen zwei exakt so aussehen werden wie wir.«
»Wenn sie wirklich wissen, dass wir auf dem Weg sind, ist das ein großes Risiko. Und falls sie es nicht wissen sollten -was soll passieren, wenn wir ›uns selbst‹ begegnen?«
Jackie griff nach ihrem Waffengürtel und legte ihn sich um. Es war eine mehr als deutliche Antwort auf seine Frage.
Sie überquerten die verschneite Ebene, während der Mond sich hinter Wolken versteckte. Auf diese Weise würde man sie bei visueller Überwachung nicht wahrnehmen können. Das einzige Geräusch war das unablässige Heulen des Windes. In dieser Nacht war die Temperatur noch weiter gesunken, doch dank der Thermoanzüge und Schutzmasken drang von der Kälte kaum etwas bis auf die Haut durch. Die Notwendigkeit, keine Körperwärme zu verlieren, zwang sie beide auch, auf eine Unterhaltung zu verzichten.
Erst als sie nach einem besonders strapaziösen Marsch bergauf eine kurze Pause einlegten, brach Jackie das Schweigen.
»Ich will wissen, was geschehen ist, Ch’k’te. Aber zuerst möchte ich etwas klarstellen: se Sergei kannte si Th’an’ya, und es schien ihn nicht zu überraschen, dass er sie wiedersah.«
»li Th’an’ya war dem Hohen Nest bekannt«, erwiderte Ch’k’te und bückte sich, um die Skibindungen zu überprüfen.
»Netter Versuch.«
Er richtete sich auf und sah Jackie an. »Wie bitte?«
»Er kannte sie, Ch’k’te. Und nicht nur das. Es wunderte ihn auch nicht, sie zu sehen, obwohl sie den Äußeren Frieden überwunden hatte. Sie haben nicht erwartet, ihr hsi in Ihrem Geist zu finden, er dagegen schon.«
»Dessen bin ich mir nicht sicher. Aber wenn es stimmt -was bedeutet es dann?«
»Ich weiß nicht. Allerdings sagte er zu ihr, es sei eingetreten, was sie vorausgesehen habe. Vor einigen Tagen sagte er zu mir sinngemäß, dass er nach Cicero gekommen ist, weil er dachte, hier würde sich etwas ereignen.«
»Ich bin davon überzeugt, dass se Sergei aus diesem Grund herkam, li Th’an’ya verfügte über starke seherische Kräfte. Bestimmt hat er das gemeint.«
»Es steckt noch etwas anderes dahinter.«
»Möglicherweise, aber ich weiß es nicht.«
Jackie sah hinauf zum Nachthimmel, an dem die fernen Sterne wie Diamanten funkelten.
»Sagen Sie mir, was geschehen ist.«
Ch’k’te wandte sich zur Seite. »Ich bitte achttausendmal um Verzeihung, se Jackie …«
»Ich will keine Entschuldigung hören, sondern eine Erklärung. Ich will es verstehen.«
»Es war gefährlich, vor allem mit einem fremden Geist. Aber ich … ich war …«
»Verzweifelt.«
»Eine zutreffende Beschreibung. Mir wurde bewusst, dass ich nicht stark genug bin, um den Gyaryu’har zu erreichen. Dann nahm ich die Gegenwart des hsi meiner Seelenverwandten wahr … und mit ihrer Hilfe erkannte ich, dass ich Erfolg haben könnte. Sie wusste nicht, was sie war …«
»Eine Erinnerung? Sie mussten eine Erinnerung überreden?«
Er drehte sich zu ihr um, das Gesicht in tiefe Schatten gehüllt. »Jf Th’an’ya gehörte zu einer Forschungsmission. Am Abend vor ihrer Abreise gingen wir die Verbindung von Geist und Körper ein. Das Schiff wurde vielleicht bei einem falsch berechneten Sprung zerstört oder stürzte ab. Auf jeden Fall kehrte sie nie zu mir zurück. Sie hinterließ das Muster ihres hsi in meinem Geist. Das hsi, das ich nun fand, war wesentlich stärker als erwartet. Als ich es wahrnahm, wurde mir klar, dass sie einen großen Teil von sich in mir zurückgelassen hat.«
»Was bedeutet es, dass sie ihr hsi so zurückgelassen hat?«
»Sie war eine starke Fühlende, se Jackie.«
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