Dunkle Seelen
nicht davon ablenken.
Sie würde es sich später holen.
Beide verlangsamten ihr Tempo, als sie sich vorsichtig und hellwach der massiven Treppe näherten. Cassie konnte Jakes schweren Atem hören. Er hatte zwar mit ihr Schritt gehalten, aber trotz all seiner Workouts konnte er nicht so weit oder so schnell laufen wie sie. Gut zu wissen.
Nein, hör auf damit, Cassie!
»Wo fangen wir an?«, murmelte Jake, der neben ihr stehen geblieben war und nach Luft schnappte.
Cassie stützte sich mit einer Hand an einer vergoldeten Säule ab, schickte ihre Sinne aus und versuchte, das Gebäude mit jeder Faser ihres Körpers zu spüren. Ja, wo? Sie sollte es wissen. Sie konnte es wissen, sie musste es nur fühlen...
Wohin würde ER gehen, Cassandra? Denke, wie er denken würde, meine Liebe! Wir müssen lernen, klüger zu sein als er!
Alles schön und gut, dachte sie trocken, aber Ranjit dachte vielleicht nicht so, wie er das für gewöhnlich tat. Sie fühlte sich ernsthaft versucht, Richards Namen zu rufen, aber sie wusste, dass sie dieser Versuchung widerstehen musste. Instinktiv wusste sie, dass er nicht antworten würde, nicht jetzt. Aber Ranjit würde es vielleicht tun.
Die Moschee war riesig. Während sie lautlos durch ihre massiven Torbögen gingen, fühlte Cassie sich selbst in diesem Moment noch geblendet von der prachtvollen Schönheit des Gebäudes. Allerdings nur kurz. An Pracht war sie jetzt gewöhnt. Sie war beeindruckt, aber nicht eingeschüchtert. Bei Jake lag die Sache jedoch anders. Sie konnte seine Ehrfurcht spüren. Sie konnte sie förmlich riechen. Sie gestattete sich ein schwaches Lächeln.
»Hörst du irgendetwas?«, flüsterte er.
Sie hielt inne und sandte ihre Sinne aus.
»Ja. Aber nicht hier.« Sie wandte sich scharf nach Südwesten. »Folg mir.«
Auf dieser Seite der Moschee befanden sich die Mausoleen. Cassie war darauf bedacht, im Schatten zu blei-ben, hatte es jetzt aber eilig. Sie spürte es mehr, als dass sie es hörte. Ihr Ziel war die zentrale Grabstätte: ein massiges, überwölbtes Gebäude mit einem Bogengang ringsum. Schnell und leise lief sie die steinernen Stufen zum Mausoleum hinauf.
Es war atemberaubend. Acht riesige Bögen, kunstvoll gekachelt und mit Mosaiken und Inschriften versehen, überragten die schweigenden Sarkophage. Der Raum roch nach jahrhundertalter Geschichte und in der Stille hallten die Geister wider. Schatten und Geistern. Cassie hielt die Luft an und lauschte aufmerksam. Vorsichtig trat sie hinein. Mit weit aufgerissenen Augen blieb sie stehen. Doch es war nicht die majestätische Architektur, die sie ungläubig anstarrte.
Dort stand er, vor dem größten Sarkophag.
Ranjit.
Sein Blick war direkt auf sie gerichtet, aber er schien sie nicht zu sehen. Seine Augen waren von einem Win- kel zum anderen rot unterlaufen und er rührte sich nicht.
Sie hatte ihn so lange nicht mehr gesehen, dass Cassie sich ebenfalls nicht rühren konnte. Seine Fäuste waren geballt, und sie sah, dass die Härchen auf seinen Armen sich wie elektrisiert aufgestellt hatten. Zu seinen Füßen lag, halb bewusstlos, Richard.
Cassie erstarrte, wie gebannt vor Entsetzen und Faszination. Und auch Jake neben ihr blieb wie angewurzelt stehen. Ranjit sah wild aus, strahlend lebendig. Endlich wandte er sich in ihre Richtung und über seine wahnsin- nigen Gesichtszüge zuckte ein Anflug von Wiedererkennen. Er lächelte, aber es war kein nettes Lächeln.
»Ah! Das ist ja wunderbar. Meine Freunde!«
»Ranjit, hör mir zu ...«
Er fiel ihr ins Wort, als habe sie überhaupt nicht gesprochen. »Jake hat mir das Messer also doch noch gebracht! Es tut mir schrecklich leid, dass ich unser ursprüngliches Rendezvous versäumt habe. Ich wurde ein wenig, ähm aufgehalten!« Er lachte wild. »Ja, Cassie, wir hatten einen Termin, Jake und ich. Er wollte alles über Jess wissen und ich wollte das Messer. Ein ziemlich guter Tausch, meinst du nicht auch? Aber leider, Jake, hatte ich Dringenderes zu erledigen.«
»Ranjit«, rief sie mit vor Angst schriller Stimme. »Das bist nicht du!«
»Das ist der Punkt, in dem du dich irrst, Cassie. Ich bin es, und zwar mehr denn je! Verstehst du nicht? Das alles habe ich für dich getan! Es war einfach, die Urne aus Sir Alrics Büro zu holen. Er war davon ausgegangen, dass niemand sonst um ihre Macht wusste, aber...« Seine Augen flackerten hin und her, als überschlügen seine Gedanken sich. »Das Messer, na ja, ich hatte gehofft, dass ich es früher bekommen
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