Dunkle Tage
Hendrik es eilig. Er verließ das Bibliotheksgebäude in der Dorotheenstraße und eilte zur Universität, um zu sehen, ob er nicht Ludwig Sebald oder zumindest dessen Bruder ausfindig machen konnte. Er benutzte den Eingang durch den Gartenhof und lächelte einer Gruppe Studentinnen zu, die ihm entgegenkam. Die vielen Frauen, die seit Kriegsbeginn hier studierten, waren ein erfreulicher Anblick.
Weniger erfreulich hingegen war das Flugblatt, das ihm jemand in die Hand drückte. Es begrüßte die Entscheidung über Professor Nicolai, begnügte sich jedoch nicht mit Zustimmung, sondern erging sich in weitschweifigen Betrachtungen über den Niedergang des Universitätswesens, gewürzt mit einer Suada antisemitischer Pöbeleien. Hendrik zerknüllte das Papier und schleuderte es in den nächsten Papierkorb. Anscheinend war die Stimmung reif dafür; erst heute Morgen hatten die Zeitungen von antisemitischen Ausschreitungen in Bayern berichtet.
Durch die südliche Eingangshalle ging Hendrik in den Ehrenhof. Er hatte nur eine vage Vorstellung davon, wie er es anstellen musste, Leute zum Reden zu bringen, aber es juckte ihn in den Fingern, die Fragetechnik seines Bruders anzuwenden.
Wie erwartet traf er die Sebalds am Helmholtz-Denkmal vor dem Hauptportal. Sie waren in das Flugblatt vertieft und lasen es mit offensichtlicher Genugtuung. Ludwig Sebald war ein Kerl wie ein Sturmpanzerwagen, der sich gebärdete, als sei jede Blähung von ihm ein Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung. Sein Bruder Leander war das genaue Gegenteil. Von zartem Körperbau, mit sanfter Stimme ausgestattet, entsprach er so gar nicht dem Bild eines Freikorpsmannes.
Hendrik gesellte sich zu den beiden. „Guten Morgen“, sagte er.
Die Brüder erwiderten seinen Gruß, Leander arglos, Ludwig mit spürbarem Ressentiment.
„Die Wellen schlagen ganz schön hoch“, meinte Hendrik und deutete auf das Flugblatt.
Sofort verschlossen sich die Mienen der Studenten. „Wundert Sie das?“
Aha, kunstvolle Umwege waren also die falsche Taktik! „Soviel ich weiß, gehören Sie zu den Freikorps“, sagte Hendrik. Da Leander zu Boden blickte, wandte er ihm seine Aufmerksamkeit zu. „Entspricht das den Tatsachen?“
Ludwig drängte sich dazwischen. „Was geht Sie das an?“
„Ich suche nach jemandem, einem Mitglied der Nationalen Vereinigung.“
„Versuchen Sie es beim Einwohnermeldeamt.“
Verpfuscht! Irgendwie hatte sein Bruder bei der Befragung eine bessere Figur gemacht. Hendrik schob seine Brille auf die Nasenwurzel. Vielleicht sollte er eine schärfere Gangart einschlagen. Ein bisschen provozieren. „Naja, ich kann mir ohnehin nicht vorstellen, dass Sie dieses Gesindel näher kennen.“
„Wie können Sie es wagen, so über Ehrenmänner zu urteilen, die ihr Leben dem Dienst am Vaterland verschrieben haben?“
„Ehrenmänner – wie jemand, der sich Thor nennt?“
„Habe den Namen nie gehört.“
„Tatsächlich? Also entweder Sie kennen diese Leute wirklich nicht, dann entbehrt Ihre moralische Entrüstung jeder Grundlage. Oder Sie kennen sie, dann gibt es keinen Grund, ihre Namen zu verheimlichen, jedenfalls nicht, wenn es sich wirklich um Ehrenmänner handelt. Logik, erstes Semester.“
Da Ludwig schwieg, wandte Hendrik sich erneut Leander zu. Er war das schwächere Glied in der Kette, bei ihm musste er ansetzen. „Ich hielt Sie immer für jemanden mit intaktem Unrechtsbewusstsein. Fangen Sie jetzt an, Verbrecher zu decken?“
„Diese Beleidigung nehmen Sie zurück!“, fauchte Ludwig.
„Eine Vereinigung, die zu dem Zweck gegründet wurde, die Republik zu stürzen, ist ihrer Natur nach verbrecherisch, mit welch schönen Worten sie ihr Ziel auch immer zu verschleiern sucht.“
„Republik!“ Ludwig spie das Wort aus wie ein verdorbenes Stück Fleisch. „Diese so genannte Republik besteht aus lauter verjüdelten Bürgern, die den ganzen Tag nur an ihren Profit denken. Für diese Leute haben wir nicht im Krieg gekämpft!“
„Lassen wir doch den Krieg aus dem Spiel.“
„Das Thema ist Ihnen unangenehm, ja? Wundert mich nicht! Leute wie Sie werden nie begreifen, dass ein Mann bereit ist, sein Leben für seine Ideale zu opfern.“
„Wenn es sich für ein Ziel nicht zu leben lohnt, lohnt es sich auch nicht, dafür zu sterben. – Und Sie? Sind Sie derselben Meinung wie Ihr Bruder?“
Leander studierte die ornamentale Mosaikbepflasterung, als gäbe es nichts Interessanteres auf der Welt.
Wieder antwortete Ludwig an seiner
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