Dunkle Tage
und dem falsch zugeknöpften Hemd.“
Hastig korrigierte Gregor sein Erscheinungsbild. „Dass du diesem verzogenen Biest gegenüber so ruhig geblieben bist, erstaunt mich“, sagte er.
„Ich halte mich bei solchen Gelegenheiten an Epiktet, der uns rät, die Dinge hinzunehmen, die zu ändern nicht in unserer Macht steht.“
3
Noah Rosenthal war Bibliothekar der Universitätsbibliothek, solange Hendrik denken konnte; eine Institution. Sein Gesicht erinnerte ihn immer an ein Stück Borke, das er als Kind am Strand der Ostsee gefunden hatte, wettergegerbt, zerfurcht und voller Geschichten.
„Was macht dein Rad?“, erkundigte sich Hendrik, kaum dass sie sich begrüßt hatten.
Noahs Fahrrad war stadtbekannt. Nicht nur, dass der alte Mann mit seinen 72 Jahren immer noch jeden Morgen damit zur Arbeit fuhr, er bastelte auch leidenschaftlich gern daran herum. Jeder an der Universität kannte das Brennabor-Rad mit den extravaganten Accessoires.
„Ich hab’ es neu lackiert, mit schwarz-rot-goldenen Dekorlinien am Rahmen, sieht richtig gut aus!“
Eine Weile fachsimpelten sie über das Rad, dann hielt Hendrik die gestrige Abendausgabe der Freiheit hoch. Professor Nicolai des Lehrens unwürdig erklärt , hieß es da. „Schon gelesen?“
Noah winkte ab. „Wo es keine Streitkultur gibt, herrscht Willkür.“
Dem konnte Hendrik nur zustimmen. Vermutlich hätte es ihn nicht überraschen sollen, dennoch war es ein Schock, dass der Senat der Universität einstimmig gegen Professor Nicolai entschieden hatte. Und dabei hatten diese Leute noch die Stirn gehabt zu behaupten, das Urteil stünde in keinem Zusammenhang mit der pazifistischen Haltung des Professors! Wie konnte der Senat nur derart seine Befugnisse überschreiten! Wie konnte er dem Druck des studentischen Pöbels weichen, der die Vorlesungen Nicolais durch Randalieren unmöglich gemacht hatte! Ja, Noah hatte es auf den Punkt gebracht: Es gab in Deutschland keine Streitkultur.
Und die Sache mit Professor Nicolai war nicht der einzige Vorfall dieser Art. Am Samstagabend, als die Kapelle im „Hotel Adlon“ das Deutschlandlied anstimmte und die Angehörigen der französischen Militärmission naturgemäß sitzen blieben, während die Deutschen sich erhoben, hatte der dort anwesende Prinz Joachim-Albrecht von Preußen die Franzosen angepöbelt, um sie anschließend unter tatkräftiger Mithilfe weiterer Gäste mit Gläsern und Vasen zu bewerfen. Besonders unerträglich war die Tatsache, dass der Prinz seine Tat inzwischen bestritt. Die Feigheit derer, die sich anderen moralisch überlegen fühlten und dabei nicht einmal das Rückgrat besaßen, die Verantwortung für ihre Handlungen zu übernehmen, machte Hendrik krank.
Schließlich erinnerte er sich daran, weshalb er eigentlich hier war. „Ich brauche dringend diese Bücher“, meinte er und überreichte Noah eine Liste. „Kannst du sie mir bis nach meiner Vorlesung heraussuchen?“
„Lass’ mal sehen … Nibelungenlied, hm-hm … Okkultismus, mpf … du hast ein paar merkwürdige Bücher dabei.“ Das Fragezeichen, wenn auch nicht ausgesprochen, war nicht zu überhören.
„Ich habe mich hinreißen lassen, Nachforschungen für meinen Bruder zu betreiben.“
„Polizearbeit, so …“
Hendrik erinnerte sich, dass Noah eine weit heftigere Abneigung gegen kriminalistische Untersuchungen hatte als er selbst. Aufgrund verschiedener Äußerungen vermutete er den Grund dafür in der ungarischen Vergangenheit des alten Mannes, aber er hatte nie nachgehakt. Wenn der Bibliothekar nicht von sich aus darüber reden wollte, ging es ihn auch nichts an.
Noah war ein wandelndes Lexikon, er hatte praktisch den gesamten Bestand der Bibliothek im Kopf, teilweise sogar mit Signaturen. Während Hendrik ihm fasziniert zusah, wie er aus dem Gedächtnis Zahlencodes hinter die Buchtitel notierte und andere zielstrebig aus der Kartei fischte, kam ihm ein Gedanke. Viele Studenten waren letztes Jahr für die Freikorps geworben worden und hatten engen Kontakt zu rechts gerichteten Militärkreisen. Vielleicht konnte man durch sie mehr über jenen ominösen Thor herausbekommen! „Kennst du Studenten, die bei den Freikorps sind?“
„Frag lieber, wer nicht dabei ist.“
„Irgendjemand, der sich durch besonderen Fanatismus auszeichnet?“
„Ludwig Sebald.“
Hendrik war nicht überrascht. Noah kannte nicht nur jedes Buch, sondern vermutlich auch jeden Studenten im Haus. „Danke! Du hast mir sehr geholfen!“
Plötzlich hatte
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